Historiker über die Borstei: "Eine explosive Nachbarschaft"

AZ: Herr Irlinger, Sie nennen den Gaskessel an der Dachauer Straße ein Münchner Wahrzeichen. Ist das nicht ein bisserl übertrieben?
MATHIAS IRLINGER: Heute ist er tatsächlich fast vergessen. Aber noch jeder, der in den 60ern in München aufgewachsen ist, kennt den Gaskessel. Er hat die Münchner Skyline geprägt, war fast so hoch wie die Türme der Frauenkirche. Er war ein technisches Wahrzeichen dieser Stadt.

Debatten um den Gaskessel in der Nazi-Zeit
Sie beschreiben die Debatten um den Gaskessel in der Nazi-Zeit in Ihrem Buch "Die Versorgung der Hauptstadt der Bewegung". Offenbar hielten zeitgenössische Experten eine Katastrophe an dem Standort für ziemlich wahrscheinlich. Warum?
Schon beim Bau des 200.000-cbm-Gaskessels 1930 gab es kritische Stimmen. Das lag an der besonderen Nachbarschaft. Direkt daneben entstand fast zeitgleich, von 1926 bis 1929, die Borstei mit 774 Wohnungen und bis 1928 das Dantestadion für 32.000 Zuschauer. Und vor allem: Unmittelbar angrenzend ans Gaswerk war der Flughafen Oberwiesenfeld - eine explosive Nachbarschaft.
Was bedeutete das für die Sicherheit des Gaskessels?
Man saß auf einem Pulverfass. Flughafen - das bedeutete nicht wie heute hohe Sicherheitsstandards und top-koordinierte Abläufe. Neben den Linienflügen waren damals Sportflieger unterwegs. Es gab Flugschulen und Testflüge unter anderem von BMW.
Passierten Unglücke?
Ja, zum Beispiel prallte im Dezember 1932 ein kleines Flugzeug gegen den Gaskessel, der zu dem Zeitpunkt glücklicherweise nicht gefüllt war.
Gaskessel-Unglück im Saarland: Gleicher Bautyp wie in München
Ein großes Gaskessel-Unglück gab es hingegen im Saarland. Warum war das auch für die Münchner Diskussion um den Gaskessel wichtig?
Am 10. Februar 1933 explodierte dort der Gaskessel, es gab 68 Tote, ein Stadtviertel wurde verwüstet, vorbeifahrende Straßenbahnen brannten aus, eine unglaubliche Katastrophe mit Zerstörungen, wie man sie in Europa bei technischen Unfällen kaum kannte.

Aber noch mal: Was hatte das mit München zu tun?
Der Neunkircher und der Münchner Gaskessel waren der gleiche Bautyp von MAN und beide waren neu.
Und dieses Unglück wurde auch in München wahrgenommen?
Ja. Das Glockenspiel am Marienplatz verstummte und es gab öffentliche Gedenkveranstaltungen.
Münchner Nazis aufseiten der Borstei-Bewohner
Kurz darauf gab es auch im Münchner Rathaus die Machtübernahme durch die Nazis. Wie standen die davor zur Debatte um den Gaskessel?
Vermeintlich aufseiten der gefährdeten Borstei-Bewohner. Der "Völkische Beobachter" machte sich zunächst zu deren Sprachrohr. Die Münchner Nazis wetterten gegen die Stadt, wie diese die Borstei-Bewohner der Gefahr aussetzen konnte. Die Nazis hatten Anfang der 30er übrigens auch sehr gute Wahlergebnisse in der Borstei, sie war brauner als die Umgebung.
Und nach der Machtübernahme?
Da erschienen im "Völkischen Beobachter" nur noch Artikel, wie sicher alles sei. Die Borstei-Bewohner fanden keine Öffentlichkeit mehr, obwohl sie die Stadt und das zuständige Staatsministerium des Inneren immer wieder auf die Gefahr hinwiesen.
Was machte die neue NS-Stadtregierung?
Sie versuchte - wie auch der Direktor der Gaswerke - zu beschwichtigen. Alles sei sicher.
"Hinter verschlossenen Türen geht es im Rathaus heiß her"
Und die ernsthaften Diskussionen liefen hinter verschlossenen Türen ab?
Ja, es wurde ausschließlich in geheimen Sitzungen diskutiert. Dort ging es aber heiß her. Die Diskussionen in den Stadtratsausschüssen umfassen über 30 Protokollseiten. Es wurde gestritten - und viele NS-Stadträte halten die Situation intern für hochgefährlich. Einige gehen fest davon aus, dass der Gaskessel in absehbarer Zeit in die Luft geht und den ganzen Münchner Nordwesten "wegrasiert".

Warum ging man das Problem nicht an, verlegt das Gaswerk - oder den Flughafen?
Weil es um viel Geld geht. Beides würde jeweils Millionensummen kosten.
Was war dann die Strategie?
Den NS-Stadträten ging es nicht um die Menschen, sondern nur um ihre Verantwortung nach außen. Diese wollten sie loswerden. Wenn etwas passiert, wovon sie ausgingen, sollten andere schuld sein.
Sogar Hitler wurde über Proteste aus der Borstei informiert
Wie sollte das gehen?
Die Stadt hätte am liebsten, dass das Reich den Flughafen übernimmt, sogar eine Schenkung stand im Raum. Man wollte aber in die Verträge explizit reinschreiben, dass das Reich keine Einwände gegen den Gaskessel in der Nachbarschaft hat. Wenn dann ein Flugzeug in den Gaskessel gestürzt wäre, könnte man sagen: Das Reich ist schuld, weil es den Flughafen betreibt. Aus heutiger Sicht ist das eine absurde Logik. Aber das Beispiel zeigt: Es ging nicht darum, die eigene Bevölkerung zu schützen.
Andererseits versuchte man, den Flughafen aus der Debatte zu drängen.
Ja, die Stadt wollte nur noch über die Sicherheit des Gaskessels diskutieren, etwa über ein Gutachten, und argumentierte mit wirtschaftlichen Folgen. So sollte es um die Exportwirtschaft gehen - MAN hat den Gasometer-Bautyp bis in die USA verkauft - und um die Sicherheit in vielen Städten, wo solche Gaskessel stehen, aber nicht mehr um die spezifische Münchner Situation mit Borstei und Flughafen.

Der Flughafen wurde aber schließlich tatsächlich wegverlegt, nach Riem. Nach Ihren Erkenntnissen wurde sogar Hitler über Proteste aus der Borstei informiert. Hat das eine Rolle gespielt?
Die Einwände aus der Nachbarschaft waren ihm egal. Sie galten als lästig. Hitler wollte einen repräsentativen Flughafen für die "Hauptstadt der Bewegung" - so wie in Berlin, wo gerade Tempelhof gebaut wurde.
Im Luftkrieg war der Gaskessel zu großes Risiko
Warum wurde der Gaskessel schließlich abgestellt?
Das passierte mit dem Kriegsbeginn, weil er im Luftkrieg ein zu großes Risiko war.
Er wurde dann aber im Krieg noch mal in Betrieb genommen.
Ja, 1943, weil die Gasversorgung gefährdet war. Gas war unverzichtbar für die Kriegsproduktion. In dieser Situation schaute man nicht mehr auf Gefahren - weder für die Bevölkerung in der Nachbarschaft noch für die Zwangsarbeiter, die direkt beim Gaswerk interniert waren. Die Stadt achtete aber darauf, dass ein anderer - in diesem Fall das Luftgaukommando - die Verantwortung übernahm.

Wann wurde der Gaskessel endgültig außer Betrieb genommen?
1975 drehte Oberbürgermeister Georg Kronawitter symbolisch die letzte Gasflamme ab. München wird von nun an mit Erdgas versorgt, das über Fernleitungen kommt. Der Gaskessel, der einen hohen Schrottwert hat, verschwindet aus der Skyline.
"Viele Münchnerinnen begehen Selbstmord mit dem Gas"
In den 30er Jahren war das Gas auch abseits des Gaswerks in der Stadt eine Gefahr. Warum war da so?
Gas war nicht nur explosiv, sondern auch giftig. Bei unbemerkten Gasaustritten - etwa durch Rohrbrüche - kam es zu Gasvergiftungen, manche davon mit Todesfolge. Davon war fast jede Münchnerin und jeder Münchner gefährdet, denn die Leitungen verliefen in nahezu allen Straßen. Ab 1934 war die Gefahr von Gasvergiftungen aber eigentlich zu bannen, man konnte das Gas entgiften. Aber die Stadt, für die das Gaswerk ein "Goldesel" war, wollte dafür kein Geld ausgeben, sondern investierte lieber in nationalsozialistische Prestigeprojekte
Dabei gab es dramatische Unglücke.
Ja, zum Beispiel starben in der Nacht zum 12. Dezember 1936 neun Menschen in der Winzererstraße und wenige Wochen später ein Student in der Schraudolphstraße. Viele fragen, warum die Stadt das Gas nicht endlich entgiftet.
Ausgerechnet die SS galt bei den Nazis als Kritikerin der Gasversorgung Münchens. Warum?
Einige setzten Gas gezielt zum Selbstmord ein - insbesondere Frauen. Es reichte, den Gashahn aufzudrehen und den Raum abzudichten. Zum Beispiel nahmen sich im Jahr 1936 auf diese Weise 88 Menschen in München das Leben, 99 weitere versuchten es.
NS-Stadtführung investierte nicht in die Sicherheit der Bevölkerung
Und inwiefern war das für die SS ein Argument?
Während die Nationalsozialisten Gas gezielt zum Töten etwa von Menschen mit Behinderung einsetzten, galt der Selbstmord von "Volksgenossinnen und Volksgenossen" als Verrat an der eigenen Rasse. Die Stadtführung wand sich aber weiter raus. Eine Gasentgiftung war ihr zu teuer, obwohl es um vergleichsweise kleine Beträge ging.
Was sagen uns die Münchner Gas-Geschichten über die Politik der Nazis?
Die NS-Stadtführung investierte nicht in die Sicherheit der Bevölkerung, ließ etwa sanierungsbedürftige Rohre veraltern, was die Gefahr von Lecks erhöhte. Sie wollte mit der Gasversorgung vor allem Geld verdienen und sich dafür mit großen Plänen und Bauten als "tatkräftige" Stadt präsentieren. Während das, was unter der Erde moderte, unsichtbar war und die Gefahren des Gaskessels unter den Teppich gekehrt wurden, rühmten sich die Münchner Nazis lieber mit Gebäuden an der Oberfläche wie dem Nordbad in Schwabing.