"Hatte bisher Glück": Matthias N. über sein Leben als Münchner Drag-Künstler

Aufwendig gestylte Perücken, Glitzer-Schminke und High Heels: Ein Münchner verwandelt sich regelmäßig in eine schrille Bühnen-Königin. Der AZ erzählt er, was er an seiner Rolle am meisten liebt.
von  Sophia Willibald
Matthias N. (47) in seiner Drag-Persona „Daphny Ryan“. 2019 trat er in München erstmals als Dragqueen bei der Maiköniginwahl auf. Schon damals wählte er ein Dirndl, das Daphny Ryan bis heute gerne trägt.
Matthias N. (47) in seiner Drag-Persona „Daphny Ryan“. 2019 trat er in München erstmals als Dragqueen bei der Maiköniginwahl auf. Schon damals wählte er ein Dirndl, das Daphny Ryan bis heute gerne trägt. © Bernd Wackerbauer

Der 47-Jährige tritt seit sechs Jahren als Dragqueen Daphny Ryan auf. Seinen vollen Nachnamen möchte er nicht nennen, um die Kunstfigur von seiner realen Person zu trennen. 2021 gründete er mit anderen die "United Queens of Munich". Der Verein fördert die Vernetzung der Gemeinschaft und steht für ein tolerantes Miteinander.

Matthias N. verwandelt sich seit sechs Jahren regelmäßig in eine Dragqueen – wie es dazu kam

AZ: Matthias, Sie treten als Dragqueen auf. Dabei schlüpfen Sie in die Rolle der Daphny Ryan. Wie lange machen Sie das schon – und wie kam es dazu?
MATTHIAS N.: Ich bin jetzt seit sechs Jahren als Dragqueen aktiv. Die Faszination für Travestie hat mich schon immer begleitet – ich war schon lange begeistert von allem, was da auf der Bühne passiert: die Kostüme, die Auftritte, diese besondere Atmosphäre. Ich habe mir solche Shows immer gerne angeschaut und auch regelmäßig Tickets dafür gekauft. Dass ich jetzt selbst als Dragqueen auf der Bühne stehe, entstand aus einer Bierlaune heraus.

Der 47-Jährige erzählt, dass ihn die Faszination für Dragqueens und deren Auftritte schon lange begleitet hätte.
Der 47-Jährige erzählt, dass ihn die Faszination für Dragqueens und deren Auftritte schon lange begleitet hätte. © privat

Das klingt spannend, was ist passiert?
Es war kurz vor der Maiköniginwahl 2019, wir saßen gemütlich beisammen in einer Bar und ich habe aufgeschnappt, wie jemand sagte: "Mensch, die sind heuer so wenig Kandidatinnen bei der Maiköniginwahl, die suchen händeringend." Zu später Stunde habe ich dann halb aus Spaß gesagt: "Irgendwann werde ich da auch mal mitmachen." Fünf Minuten später stand die Organisatorin neben mir: "Ich hab gehört, du machst mit!" Ich war völlig überrumpelt – aber ich dachte mir: Wenn ich jetzt Nein sage, mach ich’s nie. Also hab ich 'Ja' gesagt. Da war klar: Jetzt gibt’s kein Zurück.

"Hat Spaß gemacht": Matthias N. über seinen Start als Dragqueen

Hatten Sie schon etwas Erfahrung im Drag-Sein gesammelt, Schminken, Outfits und so weiter?
Nein, überhaupt nicht! Ein halbes Jahr vorher haben wir für einen Freund, der 40 geworden ist, den ESC nachgespielt, weil er ein riesiger Eurovision-Fan ist. Wir haben für jedes wichtige Jahr einen Interpreten ausgesucht, und sein Geburtsjahr ist 1977. In dem Jahr hat Marie Myriam mit einem französischen Lied gewonnen. Niemand wollte sie machen. Irgendwann hab ich gesagt: "Na gut, dann mach ich halt diese Nummer – irgendwer muss es ja tun." Ich hab mir ein gelbes Kleid besorgt und eine passende Perücke – aber das war eher Faschingsstyle, nichts wirklich Drag-mäßiges. Trotzdem war’s lustig. Die Leute meinten: "Wahnsinn, dass du das machst!" Und mir hat’s echt Spaß gemacht.

Von Matthias N. zur schrillen Bühnenkönigin: Die Verwandlung zu Daphny Ryan

Und wie haben Sie sich auf Ihren ersten Auftritt bei der Maiköniginwahl vorbereitet?
Nachdem ich zugesagt hatte, war ich erst einmal ziemlich überfordert. Ich habe mich gefragt: Wer kann mir dabei helfen? Wer schminkt mich? Wer berät mich bei meinem Outfit? Ich habe im Internet ein paar Leute angeschrieben und es hat sich jemand bei mir gemeldet. Die Person ist an dem Tag der Maiköniginwahl zu mir gefahren und hat mich bei allem unterstützt.

Für welches Kostüm haben Sie sich damals entschieden?
Für ein Dirndl. Auch heute trage ich als Daphny Ryan meistens eines. Allerdings war das zu dem Zeitpunkt ein ganz billiges – ich wusste ja gar nicht, welche Damengröße ich habe (lacht). Also habe ich ein gebrauchtes im Internet für fünf Euro gekauft, so ein 08/15-Plastikding.

Als es endlich losging: Waren Sie sehr nervös?
Ja, auf alle Fälle. Ich hatte zwar Erfahrung darin, vor Publikum zu performen – ich war Leistungssportler und wusste, was es heißt, vor einer Jury zu bestehen und einen Wettkampf zu meistern. Trotzdem war das etwas ganz anderes. Ich hatte eine Nummer vorbereitet, aber ich konnte ja nicht wissen, ob sie ankommt oder ob sie lächerlich wirkt. Ich fühlte mich noch nicht richtig wohl in der Rolle, die Schuhe drückten, die Strumpfhosen zwickten – das waren alles Dinge, die den Komfort nicht gerade erhöhen.

Für Matthias N. ist Drag eine Kunstform. Wenn er als Daphny Ryan auftrete, spiele er eine Rolle, sagt er.
Für Matthias N. ist Drag eine Kunstform. Wenn er als Daphny Ryan auftrete, spiele er eine Rolle, sagt er. © privat

Wie sein Umfeld auf seine neue Leidenschaft reagierte

Das hört sich nervenaufreibend an. Was haben Sie damals aufgeführt?
Ich habe ein Böhmen-Medley gemacht. Dabei hatte ich Glöckchen – so eine Art Kuhglocken – passend zum böhmischen Stil. Ich habe eine Lip-Sync-Nummer zum Medley gemacht. Außerdem habe ich noch einen Garde-Tanz auf den "Böhmischen Traum" getanzt. Ich muss schon sagen, dass ich auch erleichtert war, als es vorbei war.

Wie waren die Reaktionen im Publikum?
Der Applaus war da, also es muss zumindest ein paar Leuten gefallen haben (lacht). Und was auch super war an meinem ersten Auftritt, dass man mit den anderen Künstlerinnen in Kontakt gekommen ist. Man hat sich gefragt: Wer bist du? Woher kommst du? Wie kommst du dazu? Genau die Fragen, die Sie mir stellen. Und so haben sich daraus Freundschaften entwickelt.

Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als Sie mit Drag angefangen haben?

Sehr positiv. Für meinen Freundeskreis war das der nächste logische Schritt, da ich auch im Fasching sehr aktiv bin. Sie unterstützen mich – sie helfen mir beim Schneiden der Musik, ich kann ihnen meine neuen Stücke vorführen und sie geben mir Feedback; und sie haben kein Problem damit, sich mit mir als Daphny Ryan öffentlich zu zeigen.

Matthias N. gründete den Verein "United Queens of Munich"

Etwa zwei Jahre nach Ihrer ersten Show als Dragqueen haben Sie den Verein "United Queens of Munich" gegründet. Wie kam es dazu?
Das war während der Pandemie. Da war es schwer, sich zu treffen oder überhaupt draußen als Drag unterwegs zu sein. Als es dann die Maiköniginwahl in einer Online-Version gab, entstand die Idee, einen Verein zu gründen. Wir waren sieben Gründungsmitglieder – und haben sofort gespürt: Das funktioniert.

2021 gründete Matthias N. alias Daphny Ryan mit anderen die "United Queens of Munich".
2021 gründete Matthias N. alias Daphny Ryan mit anderen die "United Queens of Munich". © Bernd Wackerbauer

Was ist der Grundgedanke Ihres Vereins?
In erster Linie gegenseitige Unterstützung. Also: Wo krieg ich ein Kleid her, wie näh ich was um, wie schminkst du dich? Aber auch: einen sicheren Ort schaffen. Gerade als Anfänger ist es eine Hürde, allein geschminkt und aufgetakelt rauszugehen. Zusammen ist das einfacher – und auch schöner.

Bei Ihnen geht’s aber nicht nur um Dragqueens, richtig?
Genau. Wir haben Sänger dabei, Alleinunterhalter, Leute mit Fetisch, also Gummi oder Leder. Uns geht’s um das gemeinsame Auftreten – also jeder der gerne auf der Bühne steht, ist herzlich willkommen. "Queen" ist bei uns ein weiter Begriff.

Kunstform oder Lebensstil ? was Drag für Matthias N. bedeutet

Haben Sie regelmäßige Treffen außerhalb der Veranstaltungen und Auftritte?
Ja, jeden dritten Dienstag im Monat haben wir unseren Stammtisch. Da treffen wir uns – manche kommen als Dragqueen und manche nicht, das ist ganz ungezwungen – planen Events, organisieren Fahrten. Ende August machen wir zum Beispiel einen gemeinsamen Tagesausflug, den machen wir jedes Jahr. Und die vergangenen Stammtische ist natürlich auch der CSD ein großes Thema gewesen. Wir sind dort als Verein freilich vertreten.

Wie finanziert sich Ihr Verein?
Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Der Beitrag liegt bei vier Euro im Monat – also 48 Euro im Jahr. Das ist bewusst niedrig, damit es für viele bezahlbar bleibt.

Wie würden Sie Drag für sich definieren – eher als Kunstform oder als Lebensstil?
Für mich ist es Kunst. Ich spiele eine Rolle. Wie ein Schauspieler auf der Bühne. Unsere Vereinsarbeit ist auch offiziell als gemeinnützig im Bereich Kunst und Kultur anerkannt. Das ist für uns wichtig. Verstehe.

Was mögen Sie besonders an der Rolle der Daphny Ryan?
Daphny Ryan darf frecher sein. Sie hat eine schärfere Zunge – das wird einem eher verziehen als im Alltag. Man darf ein bisschen provozieren, reizen, spielen. Das macht Spaß.

Wenn mehrere Wochen kein Event oder Auftritt war, vermissen Sie dann das Daphny-Sein?
Es ist eher so, dass ich jetzt ein Dreivierteljahr Pause gemacht habe, weil es mir zu viel geworden ist. Neben der Vereinsarbeit und den Auftritten kam alle vier Wochen das Drag-Bingo in der Prosecco-Bar hinzu, ein- bis zweimal im Jahr fand es außerdem in Seniorenheimen statt, und, und, und. Da habe ich es als anstrengend empfunden, mich oft und so aufwendig herzurichten. Jetzt ist das wieder anders.

Dragqueens im Altenheim – das kommt an

Drag-Bingo? Bedeutet das, ihr tretet als Dragqueens auf und spielt gemeinsam mit dem Publikum Bingo – sogar in Seniorenheimen?
Ja, genau richtig.

Man könnte denken, dass ältere Menschen damit nichts anfangen können.
Ganz im Gegenteil: In einigen Münchner Seniorenheimen gibt es queere Wohnbereiche, teilweise sogar ganze Stockwerke. Die sind auf uns aufmerksam geworden und buchen uns seitdem immer mal wieder. Zwar vorwiegend für das queere Publikum, aber die Einladung geht an alle Bewohner und Bewohnerinnen.

Wie kommt das an?
Sehr gut. Diese Events sind etwas ganz Besonderes: Da wird ein bisschen geschäkert und wir bringen eine kleine Musikanlage. Wir performen Schlager von früher, die die Bewohner kennen. So können alle mitschunkeln, mitklatschen.

Nehmen auch nicht-queere Bewohner am Drag-Bingo teil?
Ja, die haben oft Fragen, die sie uns natürlich stellen dürfen. Da gibt’s dann einen Kaffee und dann ratscht man.

Was fragen sie zum Beispiel?
Sie wollen wissen, wie wir gemerkt hätten, dass uns das Drag-Sein gefällt, wie teuer so ein Kostüm ist und die Frage Nummer Eins ist, wie lange wir zum Schminken brauchen. Aber sie fragen nicht nur, sie erzählen auch: Zum Beispiel davon, wie man früher mit den Themen "schwul", "lesbisch", "Transvestit", et cetera umgegangen ist. Oft finden sie, dass man auch früher schon offener hätte sein sollen.

So lange dauert die Verwandlung zu Daphny Ryan

Und wie lange brauchen Sie zum Schminken?
Wenn’s eilig ist, schaffe ich es in anderthalb Stunden. Aber entspannt und sauber geschminkt dauert es drei Stunden – vor allem, weil die Grundierung und das Abkleben der Augenbrauen gut sitzen müssen. Sonst bröckelt später alles und verrinnt. Klingt sehr aufwendig.

Für das Schminken braucht Matthias N. bis zu drei Stunden, bis er sich vollständig in Daphny Ryan verwandelt hat.
Für das Schminken braucht Matthias N. bis zu drei Stunden, bis er sich vollständig in Daphny Ryan verwandelt hat. © privat

Fühlen Sie sich mittlerweile sicher, wenn Sie als Daphny Ryan unterwegs sind – auch allein?
Es hat drei bis vier Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, alleine in Drag durch München zu laufen, mit der Tram oder U-Bahn zu fahren. Heute geht das, aber es gibt Viertel, in denen ich vorsichtiger bin. Einmal wurde ich verbal angegangen – nichts Gewalttätiges, aber beleidigend. Da merkt man schon, dass man mit dem Outfit auffällt. Im Großen und Ganzen hatte ich bisher Glück, meine Kolleginnen erzählen mir aber leider was anderes.

Matthias N.: "Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, desto mehr kann zurückgeben"

Haben Sie das Gefühl, dass Übergriffe zunehmen?
Ja, ich habe den Eindruck, dass so etwas Mainstream wird. Man merkt die Auswirkungen von dem, was geopolitisch passiert. Zum Beispiel ziehen sich unter der Politik von Donald Trump immer mehr große US-Konzerne aus der Unterstützung der CSDs in Europa zurück. Das ist schade und traurig. So etwas befeuert auch Diskriminierungen auf offener Straße. Und weil wir Dragqueens auffallen, bekommen wir so etwas dann schnell ab.

Verstehe. Veranstaltungen wie der CSD sind also auch wichtig, um der Vielfalt Platz zu schaffen.
Ganz genau. Wir müssen sichtbar bleiben – und nicht vergessen, dass unsere Freiheiten erkämpft wurden. Von uns und von den Generationen vor uns. Es gibt Rückschritte, in Ungarn, in Russland, in den USA. Es geht vielleicht nicht immer um "noch mehr Rechte", aber wir müssen das, was wir haben, erhalten und bewahren. Dafür ist es ganz wichtig, am Christopher Street Day Flagge zu zeigen, den Regenbogen zu zeigen.

Was möchten Sie der queeren Gemeinschaft, aber auch nicht-queeren Münchnern und Münchnerinnen zum Schluss mitgeben? 
Mein Leitspruch ist: Je vielfältiger und diverser eine Gesellschaft ist, desto mehr kann sie jedem Einzelnen zurückgeben.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.