Hätten Sie's gewusst? Darum ist München nach Cremona das "Mekka" des Geigenbaus

Die Region München ist unterschätzt im Geigenbau. Die AZ stellt acht Meisterinnen vor, die sich in der Landeshauptstadt zusammengetan und täglich europaweit begehrte Streichinstrumente bauen.
von  Irmengard Gnau
Meisterinnen zwischen Meisterstücken: Ulrike Glinsböckel (l.) und Eva Lämmle stehen hier im Fundus von Lämmles Werkstatt. Hier duftet es immer nach frischem Holz.
Meisterinnen zwischen Meisterstücken: Ulrike Glinsböckel (l.) und Eva Lämmle stehen hier im Fundus von Lämmles Werkstatt. Hier duftet es immer nach frischem Holz. © Sigi Müller

München - Der Duft von frischem Holz steigt Besuchern in die Nase, sobald Eva Lämmle die Tür öffnet. Im schmalen Gang der Wohnung warten schon die ersten Instrumente auf ihre Behandlung, sorgfältig verpackt in Cellohüllen und Geigenkoffer. Hoch droben im fünften Stock eines Hauses zwischen Frauenkirche und Promenadeplatz hat die Geigenbauerin Eva Lämmle ihre Werkstatt eingerichtet.

Zwischen Frauenkirche und Promenadeplatz: Geigenbauerin zeigt der AZ ihre Werkstatt

Über der langen Werkbank glänzen knapp ein Dutzend Geigen, fein säuberlich aufgereiht an Haken. Auf dem Arbeitstisch neben dem Fenster liegt eine Bratsche. Sie ist Lämmles jüngstes Werk. In den vergangenen Monaten hat sie in gut 200 Stunden und 150 verschiedenen Arbeitsschritten aus wenigen, unscheinbaren Holzstücken das edle Instrument entstehen lassen. "Ich genieße es, mich in den Arbeitsflow zu versenken, wenn ich mich mit allen Sinnen auf ein Stück Holz einlassen kann", sagt sie.

Heute ist auch Ulrike Glinsböckel in ihrer Werkstatt, eine Kollegin von Lämmle. Behutsam hebt Glinsböckel nun die Bratsche an die Wange und setzt den Bogen an. Gespannt sieht Lämmle zu, wie ihre Kollegin dem Instrument die ersten Töne entlockt. "Es ist immer der spannendste Moment, wenn ein neues Instrument angespielt wird", sagt die Geigenbauerin. "Dann erfährt man: Was ist das Ergebnis meiner langen Arbeit?"

Eine Bratsche in der Entstehung: Noch ist sie hell. Ihren typischen Farbton erhält sie erst durch die Lackierung.
Eine Bratsche in der Entstehung: Noch ist sie hell. Ihren typischen Farbton erhält sie erst durch die Lackierung. © Sigi Müller

Ausreißer in der Farbgestaltung der Geigen: Ein schwarzes Instrument mit Swarovski-Steinchen

Das Bratschenspiel erfüllt den Raum, es klingt voll, erhebend, mit einem leicht dunklen Timbre. Glinsböckel und Lämmle nicken sich zufrieden zu: Das Instrument ist bereit. Als letzten Arbeitsschritt wird Lämmle den naturholzfarbenen Corpus lackieren und der Bratsche so die typische braun-rötliche Farbgebung verleihen. Die Farben der Instrumente scheinen sich zu gleichen. Ausreißer in der Farbgestaltung wie die schwarze Geige mit Swarovski-Steinchen, die Eva Lämmle in ihrem Fundus hat, sind die absolute Ausnahme.

Doch beim genauen Hinsehen lassen sich auch bei den klassischen Exemplaren Unterschiede erkennen. Jedes Instrument ist ein Unikat und jeder Geigenbauer und jede Geigenbauerin hat ihre persönliche Vorliebe, wie sie etwa die Lacke zusammenmischt. Eva Lämmle zum Beispiel wählt eher Brauntöne. "Ich gebe meinen Instrumenten gern eher einen Stich ins rötliche", sagt dagegen Ulrike Glinsböckel. Sie hat ihre Werkstatt im Osten von München unweit des Ostparks.

Die Idee wurde bei den "Münchner Geigentagen geboren"

Die beiden Frauen kennen und schätzen sich seit Jahren, 2002 haben sie gemeinsam erfolgreich die Meisterprüfung als Geigenbauerinnen abgelegt. Seit einigen Jahren haben sie sich noch enger zusammengetan: Mit sechs weiteren Kolleginnen aus und um München – Susanne von Bechtolsheim, Nele Jülch, Nicole Ayumi Rautenberg, Katharina Starzer, Heike Cockill und Claire Chaubard – haben sie die Gruppe "Maestra Geigenbauerinnen München" gegründet. Die Idee wurde bei den "Münchner Geigentagen geboren", wo Geigenbauerinnen und -bauer aus der Gegend alle drei Jahre ihre neu handgefertigten Instrumente präsentieren.

Dass acht Meisterinnen des Handwerks gemeinsam auftreten, ist eine Besonderheit in der Branche; sie setzen sich so ab von der Konkurrenz. Die ist durchaus groß: Etwa 40 bis 50 Geigenbau-Werkstätten gibt es in der Region rund um München, schätzt Glinsböckel. Damit ist München nach dem italienischen Cremona, das als "Mekka" des Geigenbaus gilt, die Stadt mit der höchsten Dichte an Geigenbauwerkstätten. Man muss also sichtbar sein, auch wenn es für alle Werkstätten gut zu tun gibt.

Geigenbauerin weiß: "München ist eine Stadt, wo die Musik vielen sehr wichtig ist"

"München ist eine Stadt, wo die Musik vielen sehr wichtig ist", sagt Glinsböckel und lächelt. Davon zeugt auch die große Vielfalt an Orchestern, von Laienensembles bis hin zu den Profi-Orchestern, die in München zuhause sind. Neben dem gemeinsamen Auftritt geht es den Frauen vor allem um den fachlichen Austausch, erzählt Glinsböckel.

In Details, wie diesen Stegen von Lämmle, hinterlassen die Geigenbauerinnen ihre persönliche Handschrift.
In Details, wie diesen Stegen von Lämmle, hinterlassen die Geigenbauerinnen ihre persönliche Handschrift. © Sigi Müller

Die acht Geigenbaumeisterinnen begannen, sich über Herausforderungen auszutauschen und gemeinsam zu tüfteln. Etwa, wie sich der Stimmstock auf den Klang eines Instruments auswirkt. Das ist ein kleines, aber sehr bedeutsames zylinderförmiges Holzstück, das zwischen Boden und Decke des Geigenkorpus geklemmt wird. Sie experimentierten gemeinsam mit verschiedenen Holzarten, Länge und Position. "Das sind Versuche, die man allein im Arbeitsalltag nicht machen würde", sagt Lämmle.

Winzigen Details wirken sich auf den Klang aus

Doch solche winzigen Details wirken sich auf den Klang aus, wie geübte Ohren erlauschen können. Jede Geige, jede Bratsche und jedes Cello klingt einzigartig und jede Geigenbauerin hat ihre eigenen klanglichen Vorlieben. Die gemeinsamen Forschungsversuche und auch den Austausch fanden alle acht bereichernd. "Wir lernen viel voneinander", sagt Glinsböckel. Denn jede der Geigenbauerinnen hat über die Jahre ihre ganz eigene Handschrift entwickelt.

Optisch lässt sich das nicht nur an der Wahl der Lackfarbe erkennen, auch die Ausgestaltung der Schnecke am Halsende oder der farblich abgesetzten Randeinlagen an der Oberseite unterscheidet sich von Meisterin zu Meisterin. "Außerdem haben wir an unterschiedlichen Schulen gelernt, das hat unseren Stil auch beeinflusst", sagt Glinsböckel. Die Münchnerin zum Beispiel hat den klassischen italienischen Geigenbau von Cremona "aufgesogen", Lämmle hingegen bringt Traditionen aus dem Vogtland mit, wo sie ihre Ausbildung absolviert hat.

Hasenleim für die Instrumente wird aus Abfällen von Hasenhaut hergestellt

Beim Tüfteln an den eigenen Instrumenten hat jede Frau zusätzlich noch ganz individuelle Tricks und Methoden entwickelt. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Leim: Zum Instrumentenbau wird ein Spezialleim verwendet. Während Glinsböckel auf Knochenleim zurückgreift, schwört Lämmle auf sogenannten Hasenleim, der aus Abfällen von Hasenhaut hergestellt wird.

Geschick gefragt: Der „Hasenleim“ wird auf einer Herdplatte erwärmt und muss dann rasch aufgetragen werden.
Geschick gefragt: Der „Hasenleim“ wird auf einer Herdplatte erwärmt und muss dann rasch aufgetragen werden. © Sigi Müller

Die geleeartige Masse wird erwärmt und muss dann rasch und millimetergenau auf die Holzteile aufgetragen werden. Da der Leim durchsichtig ist, ist die Naht später für Laien kaum zu sehen. Wichtig ist in jedem Fall, dass der Leim löslich ist: Nur so kann das Instrument später einmal repariert werden, ohne es zu beschädigen. Reparatur und Restauration von alten Instrumenten sind ein wichtiger Bestandteil von Lämmles Arbeitsalltag.

Lämmle bekam die Gelegenheit, einige Stücke des Fichtenholzes zu erwerben, das einst der Dachbalken der Frauenkirche war

Gerade liegt eine alte Geige auf der Werkbank vor ihr, daneben stehen Pinsel und Farbpigmente. Sie stammt aus dem Jahr 1760, wie ein Zettel im Inneren des Corpus verrät. Einige Furchen und Risse durchziehen die hellbraune Oberfläche. Vorsichtig wird Lämmle in den kommenden Wochen die Risse leimen und das Instrument zudem zu seiner Barockform rückbauen.

Mit noch älterem Holz hatte die Geigenbauerin vor einigen Jahren zu tun. 2015 bekam Lämmle die Gelegenheit, einige Stücke des Fichtenholzes zu erwerben, das einst der Dachbalken der Frauenkirche war. Bei Fliegerangriffen auf München während des Zweiten Weltkriegs war der mehr als 500 Jahre alte Dachstuhl des Doms zerstört worden. Das Holz hatte seinerzeit ein Händler aus Markt Indersdorf gekauft. "Ich dachte, wenn meine Werkstatt schon so nahe zur Frauenkirche liegt, muss ich daraus etwas machen", erzählt Lämmle.

Zwei der Stücke aus dem Dachbalken hängen noch in der Werkstatt

Fichtenholz eignet sich besonders gut zum Bau von Instrumentendecken, also der Oberseite etwa einer Geige, da es leicht und sehr elastisch ist und damit besonders gut schwingen kann. Insgesamt zwei moderne Geigen, eine Barockgeige und eine Barockbratsche, hat Lämmle mit dem Holz des Doms gebaut. Sie hätten einen ganz besonderen Klang, silbrig und hell, sagt sie. Zwei davon hat sie bereits verkauft, zwei hängen noch in der Werkstatt.

Für ihre neue Bratsche hat die Geigenbaumeisterin einen Wunsch: "Ich würde mir wünschen, dass sie bei den nächsten Münchner Geigentagen 2026 ein Student entdeckt, kauft und mitnimmt in sein Leben."


Die Geigenbauerinnen von Maestra zeigen ihre Arbeiten auf Messen wie der "Akustika"in Nürnberg oder den Münchner Geigentagen von 30. April bis 17. Mai 2026

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