Großstreiktag am Dienstag: Münchner erklären, wieso sie die Arbeit niederlegen

Ämter, Müllabfuhr, Bäder, Kitas und Kliniken: Verdi ruft am Dienstag zum "Großstreiktag" für mehr Lohn in München. Aber was verdient man eigentlich im Öffentlichen Dienst? Die AZ hat Streikende gefragt.
Irene Kleber |
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Eine Fahne der Gewerkschaft Ver.di bei einer Demonstration.
Eine Fahne der Gewerkschaft Ver.di bei einer Demonstration. © Christoph Reichwein/dpa/Archivbild

München - Eine knappe Woche noch bis zur nächsten Verhandlungsrunde um die Tarife im Öffentlichen Dienst. Nach Streiks in Kitas, Kliniken, auf Ämtern, beim Müll und im ÖPNV ruft die Gewerkschaft Verdi morgen zum Großstreiktag in München auf. Sie fordert 10,5 Prozent (oder 500 Euro) mehr Lohn. Um 11 Uhr trifft man sich am Marienplatz. Es werde "die größte Streikversammlung der letzten Jahre", sagt Verdi-Chef Heinrich Birner. Weil untere Einkommensgruppen "nicht mehr wissen, wo sie noch sparen können". Aufgerufen sind Ämter und Bürgerbüros, SSK-Filialen, Gärtner, Müllfahrer, Kanalschlosser, SWM-Energiefachleute und Kita-Personal. In der München Klinik soll nur Notbetrieb laufen.

"Nervlich sattelfest"

Harald Natter arbeitet seit 36 Jahren bei der Müllabfuhr - und am Wochenende am Kiosk.

Harald Natter (56) sammelt in der Innenstadt Müll ein.
Harald Natter (56) sammelt in der Innenstadt Müll ein. © privat

Beruf: Mülllader, Vorarbeiter
Alter: 56
Familienstand: verheiratet, zwei Töchter (22, 25)
Einkommen: brutto 3.400 Euro (inkl. München- und Kinder-Zuschlag), netto 2.600 Euro
Wochenstunden: 39,5

Ich sammle mit drei Kollegen Restmüll, Papier und Biomüll rund um den Hauptbahnhof ein. 150 Adressen und zehn Tonnen Müll sind das, mit Stopps alle fünf bis zehn Meter. Ich laufe acht bis zehn Kilometer hinter dem Müllauto her, drumherum schimpfen Autofahrer, kreuz und quer fahren Radler, da musst du nervlich sattelfest sein. 2600 Euro netto reichen nicht mit zwei Töchtern, die studieren, drum habe ich noch einen Minijob am Wochenende. Ich streike für 10,5 Prozent mehr brutto, weil das gerecht wär."

"In der Kloake der Stadt"

Thomas Kraus steht als Kanalschlosser mit den Gummistiefeln im Münchner Abwasser.

Beruf: Kanalschlosser, Vorarbeiter, Stadtentwässerung
Alter: 42
Familienstand: Patchworkfamilie, vier Kinder (10, 10, 2, 1)
Einkommen: brutto 4.534 Euro (inkl. 270 Euro München-Zulage, 190 Euro Erschwernis- und 287 Euro Vorabeiter-Zuschlag), netto 2.923 Euro
Wochenstunden: 39

"Ich arbeite seit 17 Jahren in Münchens Kanalisation. Wir sorgen dafür, dass die Kloake nicht hochkommt, München gesund und die Isar sauber bleibt. Mein Einkommen schaut hoch aus, aber allein die Miete frisst warm 2000 Euro. Für Nachwuchs muss unser Beruf finanziell attraktiver werden, auch deshalb streike ich."

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"Es geht nur mit Zweitjob"

Stefanie Gernhardt ist OP-Schwester im Klinikum Neuperlach - Fehler machen ist tabu.

Beruf: OP-Schwester
Alter: 42 Familienstand: ledig, alleinerziehend, eine Tochter (14)
Einkommen: brutto 2.308 Euro (inklusive München-, Kinder- und Pflege-Zulage), netto 1.741 Euro
Wochenstunden: 23

"Ich bin seit sieben Jahren OP-Schwester im Klinikum Neuperlach, wir haben es im Zentral-OP mit Bauch-, Magen-, Leber- oder Blinddarmoperationen zu tun, auch mit Krebs oder mit Notkaiserschnitten. Von den sieben OP-Sälen sind im Moment nur vier in Betrieb, weil uns Personal fehlt. Wir, die noch da sind, haben Verantwortung rund um die Uhr, wir konzentrieren uns stundenlang, oft kann ich nicht mal auf die Toilette oder etwas trinken gehen. Wir retten Leben, und wenn wir Fehler machen, hängen Leben davon ab.

Vollzeit würde ich dieses Mammutprogramm nicht schaffen, zumal bei dem Personalmangel. Deshalb arbeite ich nur drei Tage in der Klinik. So reicht aber das Geld nicht, um als alleinerziehende Mutter meine Tochter und mich zu ernähren. Deshalb mache ich einen Zweitjob, der nicht so an den Nerven zehrt: Ich überführe Autos auf 520-Euro-Basis innerhalb von Deutschland für Autohäuser, Leasing- oder Mietwagenfirmen. Da bekomme ich Mindestlohn, aber beim Autofahren über weitere Strecken erhole ich mich von der Klinikarbeit, um dann für den OP wieder fit zu sein.

Ich streike, weil Schwestern und Pfleger dringend mehr Geld verdienen müssen. Der Beruf muss finanziell attraktiver werden und es muss aufhören, dass gute Leute aus dem Beruf rausgehen, weil die Bezahlung nicht reicht. Es muss aufhören, dass der Personalmangel die, die noch da sind, noch weiter belastet. Ich streike auch, damit ich weiter alle Rechnungen bezahlen kann. Mein Einkommen - netto 1741 Euro mit allen Zulagen, plus Minijob - ist zu knapp für mich und meine Tochter. Allein für die Miete unserer 70-Quadratmeter-Wohnung zahle ich 1300 Euro. 10,5 Prozent mehr Lohn, wie Verdi es fordert, sind angemessen. Bei mir wären das brutto etwa 230 Euro im Monat mehr. Was davon netto bliebe, reicht nicht mal als Inflationsausgleich."

"Nicht nur überleben"

Karim A. Karim ist einer von 460 Münchner U-Bahn-Fahrern. Er ernährt vier Kinder.

Karim A. Karim (50) hat in Ägypten BWL studiert, ist verheiratet, hat vier Kinder. Seit 2019 ist er U-Bahn-Fahrer in München.
Karim A. Karim (50) hat in Ägypten BWL studiert, ist verheiratet, hat vier Kinder. Seit 2019 ist er U-Bahn-Fahrer in München. © privat

Beruf: U-Bahn-Fahrer
Alter: 50 Familienstand: verheiratet, vier Kinder (14, 16, 19, 19)
Einkommen: brutto 3.160 Euro (inklusive Zuschlägen), netto rund 2.000 Euro
Wochenstunden: 38,5

"Ich arbeite seit vier Jahren für die MVG, ich fahre alle Münchner U-Bahn-Linien, von der U1 bis zur U8. Am liebsten meine Heimatstrecke mit der U6 nach Freimann, wo ich wohne. Weil das Stück zwischen Studentenstadt und Garching oberirdisch und nicht im Tunnel verläuft, da bekomme ich dann auch mal etwas Sonne ab.

Die MVG ist ein toller Arbeitgeber, aber bei der Inflation jetzt reicht mein Einkommen nicht mehr aus, um meine sechsköpfige Familie ernähren zu können. Deshalb habe ich für eine bessere Bezahlung gestreikt. Ich verdiene brutto im Tarifvertrag der MVG (Stufe 2) rund 2.700 Euro, dazu kommen 270 Euro München-Zuschlag und 190 Euro Schichtzuschlag, den gibt es aber nicht in Urlaubs- oder Krank-Zeiten. Netto kommen da etwa 2.000 Euro heraus.

Mit dem Teilzeitgehalt meiner Frau, die als Sekretärin arbeitet, und dem Kindergeld sind wir bisher gut klargekommen, jetzt reicht das nicht mehr. Meine Zwillings-Söhne sind 19 Jahre alt, meine Töchter 14 und 16. Wir leben zu sechst in einer 90-Quadratmeter-Wohnung in Freimann, die 1500 Euro Miete kostet, dazu kommt Strom und Heizung. Gerade ist ein Brief gekommen, der 100 Euro Mieterhöhung ankündigt. Für den wöchentlichen Lebensmitteleinkauf haben wir vor zwei Jahren noch etwa 100 Euro bezahlt, jetzt reichen 200 Euro die Woche kaum noch aus, das sind im Monat also 400 Euro mehr Kosten. Dass die Inflation angeblich bei zehn Prozent liegt, kann also nicht stimmen, jedenfalls nicht im Supermarkt. Wir Münchner U-Bahnfahrer wünschen uns von unserem Arbeitgeber, dass er uns jeden Monat brutto 500 Euro mehr bezahlt. Bei meinem Einkommen wären das netto etwa 270 Euro. 100 Euro davon wird schon die Mieterhöhung auffressen, die verbleibenden 170 Euro würden nicht einmal reichen, um die Mehrkosten für die Lebensmittel zu decken. Wenn wir nicht nur überleben wollen, sondern leben, muss mein Gehalt steigen."

"Was wir für die Gesellschaft leisten, passt nicht zum Lohn"

Günter Tanzmeier ist Erzieher in einem Hort mit 100 Kindern, die 25 Sprachen sprechen.

Günter Tanzmeier (35) betreut Hortkinder in Ramersdorf.
Günter Tanzmeier (35) betreut Hortkinder in Ramersdorf. © privat

Beruf: Erzieher, stellvertretender Hort-Leiter
Alter: 35 Familienstand: verheiratet, zwei Kinder (9 und 11 Jahre)
Einkommen: brutto 4.876 Euro (inklusive Zuschlägen), netto rund 2.900 Euro
Wochenstunden: 39

"Wir betreuen rund 100 Grundschulkinder in vier Gruppen in unserem Hort in Ramersdorf. Mit zwölf Erzieherinnen, Erziehern und Kinderpflegerinnen sind wir personell gut aufgestellt, auch, weil wir ein schönes Arbeitsklima haben. Aber die Arbeit ist auch fordernd. Bei 60 bis 70 Prozent unserer Kinder ist die Muttersprache nicht deutsch, sie sprechen 25 andere Sprachen und Dialekte, von Türkisch über Albanisch und Farsi bis Ukrainisch. Bei vielen Kindern geht die Pubertät schon los, sie sind in den sozialen Medien unterwegs, es gibt Sorgen vor dem Schulübertritt in der vierten Klasse und vieles mehr.

Wenn wir unseren Job nicht machen, spürt die Wirtschaft das nicht sofort - das ist bei den Metallern anders, wo sofort die Produktionsbänder stillstehen. Bei uns sieht man erst zehn, 15 Jahre später, ob unsere Arbeit gelungen ist, nämlich Kinder fürs Leben und den Arbeitsmarkt fit zu machen. Der Wert unserer Arbeit für die Gesellschaft und das, was wir verdienen, das passt aber noch immer nicht zusammen - und zwar ganz unabhängig von der Inflation. Deshalb habe auch ich für mehr Einkommen gestreikt.

Ich rechne gerne vor: Für meine 39-Stunden-Woche bekomme ich brutto als stellvertretender Einrichtungsleiter nach Tarif rund 4300 Euro, dazu kommt die München-Zulage von 270 Euro, eine Kinderzulage von 60 Euro für zwei Kinder und 200 Euro Arbeitsmarktzulage für Mangelberufe, die es ja inzwischen gibt. Zusammen sind das 4876 Euro brutto. Netto bleiben rund 2900 Euro. Eine normale Erzieherin ohne Leitungsfunktion kommt auf 350 Euro weniger. Einer meiner Bekannten hat eine Firma gegründet, die sich mit einer Software zum Spracherwerb beschäftigt. Er macht online das, was wir täglich im wirklichen Leben tun, Menschen Sprache beizubringen. Aber er geht jeden Monat mit doppelt so viel Geld nach Hause. So gesehen: Ja, 500 Euro brutto mehr im Monat für Erzieherinnen und Erzieher, das finde ich angemessen. Wenn es auf 10,5 Prozent hinausliefe, wie Verdi es fordert, wären das bei mir brutto 450 Euro. Wie viel davon netto bliebe, die Inflation mitgerechnet, kann man ja ausrechnen."

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35 Kommentare
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  • Nur mal so gesagt am 20.03.2023 19:24 Uhr / Bewertung:

    Die Damen und Herren in diesem Artikel (bis auf den U-Bahn-Fahrer) jammern auf sehr hohem Niveau. Nimmt man z. B. eine/n Verkäufer/in etc. Hat man gleich durchschnittlich 800-900€ weniger. Also sehr schlechte Beispiele.

  • meingottwalter am 21.03.2023 07:46 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Nur mal so gesagt

    Genau somit es. Die sind dann auch mit z.B. 6.000 Euro per Monat unzufrieden.

  • RayRayRay am 21.03.2023 12:16 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Nur mal so gesagt

    und genau diese einstellung ist es die es so unsäglich schwer für alle beteiligten macht.

    Dieses "Du verdienst ja immernoch mehr als XYZ" ist so dermassen borniert. Hast Du Angst dass die Leute mehr als Du verdienen? Warum unterstützt Du die Menschen nicht? Alleine der Mietspiegel ist über 20% gestiegen, Lebensmittel sind deutlich teuerer und die Unternehmen haben Corona & Inflation als Ausrede genommen Ihre Preise deutlich anzuziehen, ohne den Angestellten die Gehälter auch nur im Ansatz zu erhöhen

    Ich hoffe ehrlich für Leute wie Dich dass Du mal die Schattenseite mitbekommst, wenn es keine Angestellten mehr in dem Bereich gibt, deine Kinder nicht mehr betreut werden, dein Müll liegen bleibt, deine Abwasserleitungen verstopft sind, du keine Pflege im KKH mehr bekommst und und und.

    Vielleicht würdest Du dann sehen dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleicht und die Notwendigkeit guter Bezahlung in diesen Geschäftsfeldern ein absolutes Muss ist

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