Große Stimmung und erste Misstöne bei den European Championships

München - Der Auftakt war gewaltig. 55.000 Menschen drängten sich am Mittwochabend in den Olympiapark und feierten die Eröffnung der Münchner Multi-EM. Ein buntes Fest mit Alphornbläsern und Deutsch-Rap-Sound, mit Schuhplattlern aus dem Chiemgau und den Sportfreunden Stiller aus Germering.
Münchens größtes Sportfest seit Olympia 1972
Gab es auch kein Feuer zum Anzünden und kein Bierfass zum Anzapfen: Ogfangt is. Doch das elftägige Sportspektakel hatte mit den ersten Rudervorläufen auf der Schleißheimer Regattastrecke noch gar nicht begonnen, schon gab es die ersten Irritationen, Störgeräusche und Misstöne bei Münchens größtem Sportfest seit Olympia 1972.
Auslöser waren Aussagen von Jürgen Kessing, dem Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, der am Mittwoch den baldigen Abschied von den European Championships ankündigte: "Die europäischen Leichtathletik-Vertreter haben gemerkt, nur noch eine von neun Sportarten zu sein und nicht mehr den Stellenwert zu haben, den wir uns selber zumessen." Und: "Wir schaffen das auch alleine. Das 'Stand alone" als Markenzeichen möchte man wieder herausstellen."
Deswegen sei man froh, die bereits nach Rom vergebene EM 2024 wieder als Einzel-Event auszutragen.
Leichtathletik-Verband-Präsident: "Gut, dass wir in Rom wieder alleine agieren können"
Sätze, die für Aufsehen sorgten. Mag die Leichtathletik schon wieder ausscheren? Ist sich die olympische Kernsportart zu gut dafür, um sich die Aufmerksamkeit mit Kletterern, Kanuten und Tischtennisspielern zu teilen? Fühlt man sich als Steigbügelhalter, möchte man andere Sportarten nicht mehr im Windschatten mitziehen?
Im Telefonat mit der Abendzeitung erklärte Kessing, hauptberuflich Oberbürgermeister im schwäbischen Bietigheim-Bissingen: "Das Format hier hat seine Berechtigung, es ist aber auch richtig, dass die Leichtathletik im Mittelpunkt steht. Es ist aber auch gut, dass wir in Rom wieder alleine agieren können." Kessings Hauptargumentation: Bei den European Championships in München musste sich die Leichtathletik bei der Gestaltung des Zeitplans mit anderen Sportarten arrangieren, auch wegen der Koordination der TV-Übertragungszeiten. Kritik hatte es unter anderem an der Startzeit des Marathons (15.8.) in den mutmaßlich heißen Mittagsstunden gegeben.
ECM reagiert mit Verwunderung
Auch bei der EM in Berlin 2018 habe man den Fahrplan weitestgehend selbst festlegen können, offiziell war die Leichtathletik damals zwar auch Teil der European Championships. Doch weil die anderen – damals sechs – übrigen weiteren Sportarten in Glasgow stattfanden, blieb man in der Planung meist unabhängig.
Bei der ECM, dem Dachverband der European Championships, reagierte man mit Verwunderung auf Kessings Aussagen, denn: "2024 finden ja gar keine European Championships statt", sagte Sprecher James Mulligan, "wir bleiben im Vier-Jahres-Turnus und in unserem Format flexibel. Welche Sportarten wir 2026 in diesem Rahmen erleben werden, wird man sehen."
Was aber sagen die übrigen Verbände zu Kessings Vorstoß? "Ich denke nicht, dass wir die Leichtathletik als Zugpferd brauchen, weil das Event als solches ein Anziehungspunkt ist", so Radsportverbandssprecherin Christina Kapp zur AZ.
Beachvolleyballer sehen Leichtathletik-Abschied als Verlust
Ähnlich sieht es Claudia Herweg, Sprecherin des Deutschen Tischtennisbunds: "Jede Sportart muss für sich entscheiden, ob sie an einem solchen gemeinschaftlichen Event teilnimmt, oder eine individuelle Veranstaltung vorzieht. Wir möchten hier keine Sportart als wesentlich oder auch nicht bewerten."
Anders die Reaktion bei den Beachvolleyballern. Hier sieht man den Abschied der Leichtathletik durchaus als Verlust. "Wir würden diesen Schritt bedauern", sagt Verbandssprecher Marc Kennedy, "da wir in einer gemeinsamen Europameisterschaft durchaus bessere Chancen für die mediale Sichtbarkeit der einzelnen Sportarten sehen".
Auch Torsten Hartmann, Sprecher des Deutschen Turnerbunds, hofft auf einen Verbleib: "Je mehr und populärer die Sportarten bei diesem Multisport-Event sind, desto besser ist es für mediale Wahrnehmung. Nichtsdestotrotz sollte die Struktur und Organisation der European Championships in Teilen überarbeitet werden. Wir wünschen uns, dass dann auch die Leichtathletik wieder mit im Boot sein wird."
Wünsche, mit denen er nicht allein ist. Martin Veith, der Sportdirektor der deutschen Kletterer meint: "Die Leichtathletik ist ein Mehrgewinn für jede Multisport-Veranstaltung. Den Wunsch nach unabhängiger Flexibilität muss man aber respektieren und ich glaube, dass der Kanon an anderen, teils sehr jungen Sportarten nicht minder faszinierend ist. Es gibt viele tolle Sportarten, die die Massen bewegen und begeistern können."
Für die Zukunft ist vieles noch unklar
Wie es dann 2026 aussieht, wo die alle zwei Jahre ausgetragene Leichtathletik-EM stattfindet (Kandidaten sind Birmingham und zudem Budapest), ist noch ebenso unklar wie der Ausrichter der European Championships. ECM-Sprecher Mulligan wollte auch noch offen lassen, ob sich die Wahl des Standorts der Multi-EM in vier Jahren nach dem Gastgeber der Leichtathletik-EM richtet. "Wir freuen uns auf tolle elf Tage in München – und dann sehen wir weiter."
Und wie sieht es der europäische Leichtathletikverband? Auf AZ-Anfrage erklärte die EAA in einem schriftlichen Statement: "Wir glauben sehr stark an die Werte und den Erfolg dieses Multisport-Konzepts. Nach den beiden Ausgaben der European Championships ist es nun Zeit für eine Bewertung und darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft damit umgehen."
Was nicht unbedingt nach einem bedingungslosen Treuebekenntnis als Bestandteil der europäischen Championship-Familie klingt. Gut möglich, dass die Leichtathletik-EM also in München nicht nur das allererste Mal mit anderen Sportarten zur gleichen Zeit am gleichen Ort ausgetragen wird, sondern zugleich auch das letzte Mal.