Greis für 60 Minuten

München - Meine Zeitmaschine sieht leider nicht besonders cool aus. Sie ist rot und aus Baumwolle, wiegt sechs Kilo und hat die Größe XL. Aber um Coolness soll’s heute auch nicht gehen. „Age Explorer“ heißt der Anzug, der seinem Träger ermöglicht, das Alter zu erkunden. Ihn erleben lassen soll, wie man sich als sein eigener Großvater fühlt.
Das geht schon beim Anziehen los. Die Handschuhe simulieren Arthritis, sind innen mit stacheligem Material beschichtet. Als ich die mit Gewichten beschwerte Jacke angezogen habe, merke ich, dass sie total schief zugeknöpft ist. Kommt mir bekannt vor – aus dem Zivildienst. Peinlich berührt schaue ich in die Runde. Obwohl ich jetzt weiß, dass dieses Missgeschick nicht an der „Tüddeligkeit“ liegt, die alten Menschen gerne vorschnell unterstellt wird, sondern an der fehlenden Fingerfertigkeit.
Nun wird mir auch noch ein Helm über den Kopf gestülpt, der die Sicht einschränkt und mit gelbem Visier die altersbedingte Trübung der Linse nachahmt. Manschetten an den Gelenken machen sie unbeweglich. Ein Gehördämpfer komplettiert die Verwandlung. Binnen Minuten bin ich, bislang 31, um Jahrzehnte gealtert.
Ich sehe aus wie ein Astronaut, fühle mich aber überhaupt nicht schwerelos. Im Gegenteil! Schon bei den ersten Schritten spüre ich die Erdanziehungskraft wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Doppelklick? Gar nicht so einfach
Eigentlich geht es bei diesem Termin bei „Küche & Co“ in Pasing ja nur um die Vorstellung einer Küche für Senioren, die auf den selbstbewussten Namen „Komfortwunder“ getauft wurde. Das soll ich im Altersanzug mit herkömmlichen Modellen vergleichen. Und tatsächlich: Dass Entwickler oft an dieser Zielgruppe vorbeientwickeln, merke ich ziemlich schnell. In den konventionellen Küchen liegen manche Schalter zum Beispiel zu dicht beieinander, die oberen Regale sind zu hoch, die Geschirrspülmaschinen zu niedrig. Die 50plus-Küche, von den Usern des Online-Seniorenportals feierabend.de mitentwickelt, vollbringt natürlich keine Wunder, macht viele Arbeitsschritte aber wirklich einfacher.
Einmal in dem Anzug, packt mich jedoch die Neugier, ich halte mich nicht mehr ans Protokoll, will die Welt, die plötzlich eine andere ist, entdecken. Ich setze mich an den Computer. Doppelklick auf den Browser – gar nicht so einfach, wenn die Finger nicht mitspielen. Auch die Schrift ist mir zu klein. Mal schauen, was die Kollegen so machen, während ich kurzzeitig ein Rentnerdasein führe. Avebdnezeitgng.de, Abdndzeitng.de, Abendzeitung.de – erst beim dritten Anlauf klappt’s.
Die reale Welt ist leider nicht viel einfacher als die virtuelle. Ich will mir ein Getränk am Automaten kaufen – und suche minutenlang nach den passenden Münzen in meinem Portemonnaie. Ehrenwort, nie wieder werde ich die Augen verdrehen, wenn die Oma vor mir an der Supermarktkasse es leider mal wieder „passend“ hat und in ihrer Geldbörse herumnestelt!
Außerdem: Ist das das Mineralwasser mit oder ohne Kohlensäure? Schrift auf glänzenden Lackierungen ist für mich schwer zu entziffern. Auch grün und blau zu unterscheiden fällt schwer, die Farben erscheinen im Alter immer ähnlicher. Noch schlimmer kommt’s, als mir vor lauter Aufregung (Aufregung? Eigentlich will ich mir nur etwas zu trinken kaufen!) die EC-Karte auf den Boden fällt. Mit den steifen Fingern bekomme ich sie nicht richtig zu fassen, muss den Fotografen bitten, sie für mich aufzuheben. Draußen hätte sie in falsche Hände geraten können.
Gefangen in der Aufzugtür
Ich will in den ersten Stock. Statt der Treppe nehme ich den Aufzug. Sicherheitshalber. Doch dann passiert mir das, was ich bislang für einen urbanen Mythos hielt. Ich werde in der Aufzugtür eingeklemmt!
Also lieber die Treppe. Irgendwann komme ich im dritten Stock an – und fühle mich wie nach einer Himalaya-Expedition. Was es für alte und gebrechliche Menschen bedeutet, wenn ein Aufzug zum Beispiel an einer S-Bahn-Station ausfällt, manchmal wochenlang, wird mir am eigenen Leib bewusst.
Schon nach 30 Minuten im Age Explorer habe ich Erkenntnisse gesammelt, die keine Best-Ager-Hochglanzbroschüre bieten kann. Das wahre Leben halt. „Natürlich ist das keine Simulation, die 1:1 aufgeht, denn jeder Mensch altert anders“, sagt mir Dr. Hanne Meyer-Hentschel, die den Altersanzug mitentwickelte. Auch könne man nicht sagen, wie alt genau sich jemand mit dem Gerät fühle. Die körperliche Verfassung spielt eine Rolle. Es gehe darum, „ein lebendiges Verständnis für die Lebenswelten älterer Menschen zu gewinnen“.
Die Sätze muss sie später wiederholen. Denn während meiner Zeit als 85- bis 90-jähriger Mann verstehe ich meistens nur die Hälfte. Die Gehördämpfer machen schwerhörig, filtern hohe Frequenzen heraus. Nun weiß ich endlich, warum meine 90-jährige Großmutter bei Familienfesten nach einigen Stunden nach Hause möchte, weil es ihr „zu viel“ werde; warum sie irgendwann nur noch nickt und anfängt, unsere Lippen zu lesen.
Das Stimmengewirr macht mich schon nach 40 Minuten ungeduldig, aggressiv, ich schalte gedanklich weg, wenn andere reden. Hören sie mich überhaupt sprechen? Lachen sie mich aus? Ich komme mir isoliert vor, unverstanden.
Schnell, pardon, langsam gehe ich raus an die frische Luft. Bis zur Landsbergerstraße, vierspurig ist sie an dieser Stelle. Vorhin bin ich noch einfach rübergelaufen. Jetzt wäre das lebensgefährlich.
Nach gerade einmal 60 Minuten im Age Explorer fühle ich mich nicht nur körperlich, sondern auch geistig ausgelaugt. Ich will da raus. Noch habe ich die Wahl – und ab jetzt noch mehr Respekt vor älteren Menschen.
Die Zeitmaschine verschwindet wieder in einer silbernen Kiste. Und abends gehe ich das erste Mal seit Monaten ins Fitnessstudio. Vorbeugen.