Gedenken an verstorbenen Alexej Nawalny in München: Aktivistin aus Russland befürchtet Kreml-Spione
München – Für manche ist er der große Hoffnungsträger Russlands gewesen, andere haben vor dem Oppositionspolitiker gewarnt. Der bislang nicht umfassend aufgeklärte Tod von Alexej Nawalny in einer Strafkolonie im Norden Sibiriens schockiert seine Fürsprecher und Kritiker gleichermaßen. Auch in der bayerischen Landeshauptstadt hinterlässt die Tragödie tiefe Spuren.
Angefasst von dem Todesfall ist Natalia Korotkova, eine gebürtige Russin, die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat und in München lebt. Die 35-Jährige stammt aus Murmansk, einer Stadt hinter dem Polarkreis. 1000 Kilometer entfernt befindet sich die Kolonie, in der Nawalny verstarb.
"Sind in Tränen ausgebrochen": Verein "Free Russians" plant Gedenkfeier für Nawalny in München
Am vergangenen Freitag rief sie als stellvertretende Vorsitzende des Vereins "Free Russians" zu einem Gedenken für den Putin-Gegner Nawalny am Europaplatz auf. Rund 1000 Menschen folgten dem Aufruf der Aktivistin – darunter Russischstämmige und auch trauernde Deutsche, erzählt Korotkova der AZ. "Einige sind sofort in Tränen ausgebrochen und in tiefe Trauer gestürzt."
Immer wieder setze die Erkenntnis ein, dass der Oppositionelle nicht mehr am Leben ist. "Es war ein großer Schock", meint Korotkova. Es werde deshalb dauern, bis die gebürtige Russin und die Unterstützer ihres Vereins den Verlust wirklich realisiert haben. "Wir versuchen, das zu verdauen und etwas auf die Beine zu stellen." Bereits an diesem Freitag wollen sich die Aktivisten erneut bei einer Gedenkveranstaltung in einer russischsprachigen katholischen Seelsorgeeinrichtung in München versammeln.
Umstrittene Äußerungen: Osteuropa-Historikerin warnt vor Glorifizierung von Oppositionspolitiker
Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies sieht diesen Umgang mit Nawalny kritisch. Die Expertin forscht an der LMU zur modernen Geschichte Russlands und der Ukraine. "Ein großes Problem ist diese einseitige Verehrung und ihn damit zu überhöhen", sagt die Wissenschaftlerin zur AZ. Ihr zufolge ist der Politiker mehrmals durch rassistische Äußerungen über Menschen in Zentralasien und Georgien aufgefallen.
"Er war ein russischer Nationalist und jemand, der imperial gedacht hat." Auch bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 habe Nawalny die Invasion und das "Pseudo-Referendum" zwar verurteilt, aber die Legitimation des Krieges trotzdem geteilt. Für eine Wiederherstellung der ukrainischen Grenzen von 1991 habe er sich erst Anfang 2023 ausgesprochen.
Davies verstehe, warum Personen um den Oppositionspolitiker trauern – er sei zu einem "Symbol" gegen das Regime gemacht worden. "Für eine glaubhafte Veränderung der eigenen Person würde für mich aber dazugehören, dass man darüber spricht, was man falsch gemacht hat", meint die Expertin. Doch distanziert habe sich Nawalny von vielen Aussagen nie.
Nationalist und Rassist? Alexej Nawalny hat sich laut Aktivistin aus Russland geändert
Korotkova denkt darüber gegenteilig: "Menschen ändern sich." Früher habe der Politiker noch "falsche Verbündete" gehabt, vor seinem Tod habe er seine Ansichten allerdings geändert und sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen. Sowie angeblich Nawalny will sich für den Frieden auch Korotkova stark machen.
Bereits kurz nach dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs hat sie sich mit ihrem Verein gegen den Überfall und für demokratische, europäische Werte stark gemacht. 16 Mitglieder und 50 Freiwillige zählt ihr Verein eigenen Angaben zufolge, rund 1000 Menschen lesen in Chats auf Telegram mit. Das Hauptziel: Kreml-Propaganda zu bekämpfen. "Es ist schrecklich, was den Ukrainern angetan wird, es ist aber auch schrecklich, was das Regime den Bürgern in Russland antut – Kriegsgegner werden dort auch politisch gefoltert", betont sie. "Davon schreiben wir und erzählen auch jedem, der bereit ist, uns zuzuhören."
Dieses Engagement trieb einen Keil zwischen die 35-Jährige und ihre Verwandten in Russland. Als Vertreterin von "Free Russians" werde sie in absehbarer Zeit aus Angst vor Konsequenzen nicht mehr zu ihnen in die Heimat reisen. "Wenn bekannt wird, dass man sich so engagiert, dann wird man möglicherweise zum erklärten Ziel in Russland."
"Sitzen Agenten in unseren Chats": Werden Putin-Gegner aus München überwacht?
Schon mehrmals hegte Korotkova den Verdacht, dass die Versammlungen ihres Vereins beobachtet werden: "Wir wissen, dass in unseren Chats Agenten sitzen, weil wir immer wieder Kreml-Propaganda lesen, die nur aus diesen Chats stammen kann." Vor der Schließung des russischen Generalkonsulats Anfang des Jahres als Reaktion auf die Ausweisung von 100 deutschen Bediensteten in Russland seien mehrmals auffällige, filmende Personen bei Demonstrationen aufgetaucht. "Vermutlich wird eine Dokumentation geführt. Das ist jetzt durch die Schließung des Konsulats erschwert worden."
Nachgeben will die Aktivistin trotz dieser Vorkommnisse nicht: "Wir machen jetzt weiter, stärker als zuvor." Nach der Gedenkveranstaltung am Freitag ist die nächste Versammlung bereits am darauffolgenden Tag geplant: eine "Mittagswache gegen den Krieg", ein weiteres Mal auf dem Europaplatz – unweit des Friedensengels und des geschlossenen russischen Generalkonsulats.
Derartige Proteste gegen den Krieg begrüßt auch Osteuropa-Historikerin Davies. Wenn es allerdings eine wirkliche Demokratisierung Russlands geben soll, müsse laut der Forscherin die "wahnsinnige Gewalt" – unter anderem gegen Tschetschenen, Ukrainer und Georgier – aufgearbeitet werden. "Abstrakt" von einem freien Russland zu "träumen", reiche für einen Umbruch nicht aus.