Fünf vor zwölf für die Gerechtigkeit

Einer der letzten Kriegsverbrecherprozesse: Josef S. aus Ottobrunn steht in München vor Gericht. Der 90-jährige soll 1944 den Mord an 14 Menschen im toskanischen Folzano veranlasst haben.
von  Abendzeitung

MÜNCHEN - Einer der letzten Kriegsverbrecherprozesse: Josef S. aus Ottobrunn steht in München vor Gericht. Der 90-jährige soll 1944 den Mord an 14 Menschen im toskanischen Folzano veranlasst haben.

Die dichten weißen Haare liegen etwas wirr, Josef S. muss sich auf eine Krücke stützen, als er den Schwurgerichtssaal betritt. Doch ansonsten wirkt der 90-jährige, der da auf der Anklagebank des Münchner Schwurgerichts Platz nimmt, völlig auf der Höhe. Der Rentner aus Ottobrunn scherzt mit seinen Verteidigern, grüßt ein paar Freunde im Zuhörerraum.

„Hören Sie gut?“, fragt ihn Richter Manfred Götzl, erkundigt sich nach dem neuen Hörgerät. „Ja, ich höre gut“, erklärt Josef S. Bei der Verlesung der Anklage aber hält er sich das linke Ohr, um besser zu verstehen, was Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz da sagt. Als dem Greis Kopfhörer gereicht werden, scheint es besser zu gehen.

Ohne jede Spur von Angespanntheit, Scham, Zweifel oder gar Angst hört sich der alte Mann gelassen an, was ihm da alles an Ungeheuerlichkeiten vorgeworfen wird. Auf 14-fachen Mord und Mordversuch lautet die Anklage, weil der damals 25-jährige als Führer einer Gebirgsjäger-Kompanie am 27. Juni 1944 im toskanischen Dorf Falzano mit seinen Pionieren Rache für den Tod zweier Kameraden genommen haben soll. Josef S. und sein Vorgesetzter Major Herbert S. haben die grausame Rache-Aktion laut Anklage geplant. 14 Zivilisten – darunter eine 74-jährige Frau – wurden erschossen, bzw. in ein Haus getrieben, das danach gesprengt wurde. Nur ein Opfer überlebte.

Nur einer überlebte das Massaker

Im italienischen La Spezia wurde Josef S. dafür vor zwei Jahren in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch für die deutsche Justiz ist es fünf vor zwölf. Opfer und Täter sind inzwischen Greise oder bereits tot. Während Josef S. zumindest stundenweise noch verhandlungsfähig scheint, ist der Prozess gegen seinen Kommandeur Herbert S. aus gesundheitlichen Gründen geplatzt.

Auch die Zahl der noch lebenden Zeugen nimmt ab. Richter Götzl musste gestern die Namen von sechs Zeugen verlesen, die zwischenzeitlich gestorben sind. Eine Schlüsselrolle spielt der 79-jährige Gino M. Der damals 15-Jährige überlebte als Einziger die Sprengung des Hauses. Ein Balken und die Leiche eines anderen Opfers schützten ihn vor den einstürzenden Trümmern. Gino M. hat inzwischen verziehen. Dass seinem angeblichen Peiniger in Deutschland der Prozess gemacht wird, bereite ihm keine Freude. Er schätzt seine Ruhe. Und doch wird er am 7. Oktober im Zeugenstand erwartet.

Anders als Gino M. wollen andere Betroffene auch nach 64 Jahren die Sache nicht auf sich beruhen lassen. 19 Angehörige der Opfer von Falzano werden als Nebenkläger von der Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke vertreten.

Proteste vor dem Gerichtsgebäude

Vor dem Justizzentrum an der Nymphenburger Straße haben Demonstranten Transparente gegen die „NS-Gebirgsjäger“ entrollt, sie verteilen Flugblätter, auf denen sie die Rolle des Kameradenkreises der Gebirgstruppe und deren langjährigen 2. Vorsitzenden Gerhard Klamert kritisieren.

Klamert, der Josef S. noch in La Spezia vertrat, hat die Verteidigung im Münchner Verfahren „aus Altersgründen“ an Christian Stünkel, Rainer Thesen und Klaus Goebel abgegeben. Klaus Goebel verteidigte bereits den SS-Aufseher des KZ Theresienstadt, Anton Malloth Malloth, der wegen Mordes verurteilt wurde, und Holocaust-Leugner David Irving. Doch Goebel fehlte gestern, für Josef S. ergreift Verteidiger Christian Stünkel das Wort: „Herr S. bestreitet voll umfänglich die ihm gemachten Vorwürfe.“ Zwar sei er in der Nähe von Falzano mit der Brückenreparatur beauftragt gewesen. Aber dem Bataillon fehlten die Männer um eine Vergeltungsaktion wie die in Falzano durchzuziehen. Die Anklage habe weder Augenzeugen der Befehle noch Urkunden. Das Verfahren sei „politisch-historischer Selbstzweck“. Thesen beantragte zudem ein weiteres militär-historisches Gutachten.

Das Gericht hat bis 21. Oktober elf Termine angesetzt. Doch über allem schwebt wie ein Damoklesschwert die Ankündigung der Verteidiger, dass man – sollte sich der Zustand von Josef S. verschlechtern – die Einstellung des Verfahrens beantragen wird.

John Schneider

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