Früheres KZ-Außenlager Ludwigsfeld: Wo das reine Menschsein zählt

Die Siedlung Ludwigsfeld ist als früheres Außenlager des KZ Dachau belastet. Ihre jetzigen Bewohner haben trotzdem einen Ort mit Seele geschaffen.
Eva von Steinburg |
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Eine Ludwigsfelder Familie: Anusch und Johannes Thiel (r.) mit ihrer Tochter Rebekka und Enkelin Tara.
evs Eine Ludwigsfelder Familie: Anusch und Johannes Thiel (r.) mit ihrer Tochter Rebekka und Enkelin Tara.

Nach Edelsteinen heißen die Straßen: Kristallstraße, Smaragdstraße, Onyxplatz. Die „Kristallsiedlung“ in München-Ludwigsfeld hat etwas von einem Park: Hohe Erlen und alte Pappeln rauschen im Wind. Hier wohnt es sich durchaus charmant. Doch der kleine Stadtteil im Münchner Norden hat ein Imageproblem: „Wir sind immer noch als asoziale Russensiedlung verschrien. Und dann gibt es ja die Geschichte mit dem KZ…“, sagt Anusch Thiel, eine zierliche 68-jährige Frau.

Die dunkle KZ-Vergangenheit von Ludwigsfeld hat sie recherchiert – und will trotzdem nie weg: „Hier lebt ein verrücktes multikulturelles Gemisch an Menschen mit einem sagenhaften Zusammenhalt.“

In der Nachkriegszeit herrscht Armut, viele sind traumatisiert

1953 waren die „Einfachwohnungen“ fertig. Der Bund hatte sie gebaut. Anusch Thiel zog als unterernährtes Kind in eine Wohnung ohne Heizung und ohne Bad. 2025 „Heimatlose Ausländer“ aus 22 Nationen ziehen in 34 Wohnblocks. Darunter frühere Zwangsarbeiter aus Lagern in und um München und Kriegsverschleppte aus Osteuropa.

In der Nachkriegszeit waren die meisten Menschen arm, viele traumatisiert. Der Wodka machte Probleme. Ein Pole hängte sich am Spielplatz auf. Jedoch: Die Ludwigsfelder Schicksalsgemeinschaft aus lauter Entwurzelten, schaffte es, das Beste aus ihrem neuen Leben zu machen. „Dieses Stück Erde werden die Ludwigsfelder ewig lieben, weil hier nie etwas anderes zählte als das reine Menschsein“, schrieb eine Berliner Zeitung.

In Familien gab es in den 60er- und 70er Jahren Rama-Brote, Väter arbeiteten bei MAN, die Ludwigsfelder feierten Fasching, Hochzeiten und Taufen. Ihr Alltag wurde gekrönt von langen Ludwigsfelder Nächten – die „Hounddogs“ spielten Oldies auf der asphaltierten Rollschuhplatte: Der kleine Festplatz ist übrigens das Fundament einer abgerissenen KZ-Baracke.

Für die übliche Ludwigsfelder Ausgelassenheit – für sie fehlt jedoch seit Jahren eine Kneipe. Anuschs Mann, Johannes Thiel (67), früher Hausmeister der Siedlung, macht das wütend: „Wir haben keinen Treffpunkt mehr.“

Beim Spielen stießen Kinder auf Totenschädel

Das Paradies der Familie Thiel – seine KZ-Vergangenheit belastet es schwer. Nach einem möglichen Massengrab von KZ-Opfern schürft das Landesamt für Denkmalpflege an der Granatstraße.

Geahnt, dass etwas nicht stimmt, haben die Ludwigsfelder immer. Anusch Thiels Bruder findet beim Spielen menschliche Knochen, andere Kinder stoßen auf Totenschädel. Denn: Der Bund hat die Siedlung Ludwigsfeld auf das Gebiet des ehemaligen KZ-Außenlagers Dachau-Allach gesetzt.

Das Straßenschild an der Dachauer Straße. Foto: evs

9997 Häftlinge befreite die US-Armee 1945 aus dem Lager. „Lager-Hölle, Endhölle, Überhölle“, heißt der Ort in ihren Berichten. Das KZ-Außenlager Dachau-Allach war ein Firmen-KZ von BMW, belegt der Stadtteilhistoriker Klaus Mai. In Begleitung von „bösen Hunden und seelenlosen Aufsehern“ querten die Zwangsarbeiter die Dachauer Straße – zum Einsatz in der BMW-Filiale.

Mit der „Interessensgemeinschaft Ludwigsfeld“ organisierten Johannes und Anusch Thiel 1997 eine Gedenktafel für die Zwangsarbeiter. Vorher habe nichts an Nazi-Verbrechen und das Leid im Lager erinnert. Merkwürdig für Außenstehende: Die schäbige ehemalige KZ-Sanitätsbaracke nutzt der TSV Ludwigsfeld als Vereinsheim. Warum baut das Sportamt keinen unbelasteten Treff? Die Stadt München verschleppe jede Entscheidung, klagt Anusch Thiel. Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, sagt jedoch, dass ein würdiger Gedenkort für die Ludwigsfelder Zwangsarbeiter angedacht sei.

„München hat über 60 Jahre nichts für uns getan“, kritisiert Johannes Thiel. Die Ludwigsfelder wollten 2007, dass die Stadt ihre Siedlung vom Bund übernimmt – und ihre niedrigen Mieten absichert – vergebens. Das Augsburger Immobilienunternehmen Patrizia kaufte das belastete Ludwigsfeld zum Spottpreis von 10,5 Millionen Euro.

Wenn die Grabungen beendet sind, sollen weitere Wohnsiedlungen entstehen

Wärmedämmung, freundliche Farben, großzügige Balkone – die Patrizia AG hat renoviert. „Dafür zieht sie bei den Mieten an, wo sie nur kann“, konstatiert Johannes Thiel. Der angespannte Mietmarkt macht den Stadtteil jetzt sogar noch attraktiver.

Die „Projektgesellschaft Granatstraße 12“ aus Grünwald möchte eine moderne große Wohnsiedlung errichten – auf 35 000 Quadratmetern. Wenn die archäologischen Grabungen beendet sind, soll es losgehen. Auf einem Baugrund, der „frei“ ist von möglichen Überresten der KZ-Opfer.

Der „sagenhafte Zusammenhalt“ der Siedlung – durch Wegzug und Zuzug geht er langsam verloren. Die kleine Frau Thiel wird die Wärme der Großfamilie Ludwigsfeld aber ewig beschwören – als Symbol gegen das Grauen: „Über diesen Boden sind gequälte Menschen gekrochen.“ KZ-Überlebenden haben den Einwohnern aber versichert, dass sie kein Problem mehr damit haben, „dass wir jetzt hier wohnen“, sagt Anusch Thiel. Dieses Placet ist für die Thiels wesentlich: „Dass über dem KZ ein besonders menschliches München entstehen konnte, ist unsere schönste Botschaft.“

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