Freispruch und Fragen

Peggy-Prozess: Ulvi Kulac ist offiziell entlastet. Er hat das Mädchen nicht umgebracht – aber wer war es dann?
von  Natalie Kettinger

Seine Unterstützer applaudierten, einige riefen „Bravo!“ Der geistig behinderte Gastwirtssohn Ulvi Kulac ist am Mittwoch im Wiederaufnahmeverfahren um das Verschwinden der kleinen Peggy vor 13 Jahren von der Jugendkammer des Landgerichts Bayreuth frei gesprochen worden.

„Er ist aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Ein Tatnachweis ist nicht möglich“, begründete der Richter Michael Eckstein das Urteil. Das – widerrufene – Geständnis des 36-Jährigen „mit Divergenzen und Ungereimtheiten“ könne keine Grundlage für eine Verurteilung sein, so der Vorsitzende: „Hinzu kommt, dass dieses Geständnis mit keinem einzigen Sachbeweis zu belegen ist.“

Während Verteidiger Michael Euler den „Freispruch erster Klasse“ feiert und das Gericht anordnet, die Unterbringung von Ulvi Kulac im Bezirksklinikum Bayreuth zu überprüfen, in dem er wegen exhibitionistischer Handlungen therapiert wird, hat sich Ina Jung tief bewegt in ein Café zurückgezogen. Seit acht Jahren recherchiert die Münchner Journalisten im „Fall Peggy“. Das ungeklärte Schicksal des neunjährigen Mädchens aus Lichtenberg, das seit dem 7.Mai 2001 vermisst wird, lässt sie nicht los.

2011 schrieben Ina Jung und Autor Friedrich Ani das Drehbuch zum TV-Film „Das unsichtbare Mädchen“, für das sie den Bayerischen Fernsehpreis erhielten. 2013 folgte das Buch „Der Fall Peggy“ (mit Christoph Lemmer), in dem sie die Ergebnisse ihrer Nachforschungen veröffentlichte. Dass die Staatsanwaltschaft Bayreuth seit geraumer Zeit wieder nach Peggys Mörder sucht, ist auch ihr Verdienst.

„Für viele war ich die Königin der Verschwörungstheoretiker“, sagt Ina Jung nach dem Urteilsspruch und fügt zufrieden hinzu: „Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass ich auf ganzer Linie Recht hatte.“ Ein Etappenziel, die Freilassung von Ulvi Kulac, hat die Münchnerin erreicht. Trotzdem will sie weiter recherchieren.

„Es sind noch zu viele Fragen offen“, sagt sie. „Denen möchte ich nachgehen.“ So gibt es Ungereimtheiten um die Zahl der Tatverdächtigen. „Zu Beginn der Ermittlungen war immer von 18 Tatverdächtigen die Rede“, erzählt Jung. Bekannt geworden sind nur vier: Ulvi Kulac, den das Gericht jetzt entlastet hat, zwei Männer aus Peggys Nachbarschaft und ein wegen sexuellen Missbrauchs seiner Tochter inhaftierter Ostdeutscher. Die drei Übriggebliebenen stehen derzeit im Visier der Fahnder. Sie mauern. „Wer sind die anderen?“, will Ina Jung wissen.

Ebenfalls merkwürdig: Im aktuellen Gerichtsverfahren deutete die Staatsanwältin an, es gebe „offene Ermittlungen“ gegen Peggys Mutter Susanne K. und deren früheren Lebensgefährten Erhan Ü. Anwalt Michael Euler bezeichnete beide als „Tatverdächtige“. Was wird ihnen vorgeworfen?

Im Sande verlief bislang auch die Fahndung nach einem roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen, in den Peggy laut mehreren Augenzeugen am Tag ihres Verschwindens gestiegen sein soll. „2001 hat der damalige Staatsanwalt bei seinen tschechischen Kollegen Fragen nach diesem Auto und einem Mann mit russischem Namen gestellt, der Bordelle in Karlsbad und Prag betrieb“, sagt Ina Jung.

Die unbefriedigende Antwort: In Tschechien gebe es viele Personen mit diesem Namen und die seien längst nicht alle gemeldet. Schluss, Aus. Ohne Folgen blieb außerdem die Abfrage mehrerer Auto-Kennzeichen aus dem Nachbarland. „Dabei tauchte bei der Überprüfung die Halterin eines Wagens auf, die laut einer Informantin Kinder von der Straße aufliest und in Bordelle verschleppt“, sagt die Journalisten. Wurde Peggy ihr Opfer?

Mysteriös bleibt auch, dass die Gemeinde Lichtenberg wenige Tage vor Peggys Verschwinden einen Kinderausweis für das Mädchen ausgestellt hat. Vor Gericht behauptete der ehemalige Leiter der Soko „Peggy1“, er habe das Dokument für den Fall beantragt, dass die Kleine in der Türkei gefunden werde (die Ermittler waren anfangs davon ausgegangen, dass der Stiefvater das Mädchen in sein Heimatland entführt haben könnte).

Der Leiter der Soko 2 hingegen bestritt, dass die Polizei die Anfertigung des Passes veranlasst habe. „Auf das Ausstellungsdatum wurde im Verfahren leider überhaupt nicht eingegangen“, sagt Ina Jung, die sich bis heute über eine Aussage einer Lichtenberger Gemeindemitarbeiterin wundert. „Die hat mir nämlich gesagt, der Ausweis sei für eine Reise nach Tschechien beantragt worden.“

Was wurde also aus Peggy? Nach dem Freispruch für Ulvi Kulac gilt sie wieder als vermisst. Die Kripo Bayreuth ermittelt weiter gegen die verbliebenen Verdächtigen – und auch Ina Jung wird nicht locker lassen. „Jetzt erst recht nicht.“

 

 

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