Essen aus dem Abfall: Die Müll-Schlucker

Sie nennen sich „Dumpster“ und fischen entsorgte, aber noch gute Ware aus den Abfalleimern der Supermärkte.
Jasmin Menrad |
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epd/ Stefan Schellhorn

Alexander Weiß war nie darauf angewiesen, sein Essen aus dem Müll zu holen. Auch zu Studienzeiten hatte der Informatiker immer genug Geld, um sich gute Lebensmittel zu kaufen. Er und seine Freunde tauchten aus Überzeugung im Müll von Supermärkten. Containern oder Dumpstern nennt man das: In der Nacht machen sich die Mülltaucher auf und durchsuchen die Tonnen der Supermärkte nach Essbarem.

Und davon finden sie jede Menge. „Es ist ein ökologisches Desaster. Die Waren werden produziert und dann weggeschmissen“, sagt Weiß. „Mit den Waren wirft man auch die Energie weg, die reingesteckt wurde.“ Wer containert, tut das nicht aus Not, sondern oft mit einem politischen Hintergrund. Ein Protest gegen die Wegwerfgesellschaft und den Kapitalismus. Einmal war die Clique von Alexander Weiß in Passau, dort gibt es einen Hersteller von Sojawürstchen.

Hunderte davon fischten sie aus den Tonnen, sie waren noch einige Tage haltbar. Damit bekochen sie fünfzig Leute bei einem kleinen Konzert. Freunde von Alexander Weiß haben Bio-Garnelen gefunden, verpackt, unbeschädigt und noch haltbar. „Meist sind es Produkte aus dem oberen Preissegment, die nicht oft nachgefragt sind und dann weggeworfen werden“, erzählt Weiß. Der Informatiker containerte nur bei Biomärkten, ihm ist die Qualität wichtig. Und beim Bäcker ums Eck.

„Von den Backwaren, die er jeden Tag rausgestellt hat, hätte man locker 40 Menschen versorgen können“, erzählt der 32-Jährige. Doch heute, erzählt er ruhig, kann man in München nicht mehr containern. Vor fünf Jahren war er das letzte Mal unterwegs. Zuerst waren die Tonnen abgesperrt, dann kamen hohe Zäune, Überwachungskameras, abgeschlossene Garagen. „Manche Supermärkte“, erzählt Weiß, „vermengen gezielt Abfall und Lebensmittel oder schütten Joghurt darüber, um das Essen unbrauchbar zu machen.

“ Vor zehn Jahren war das noch anders: Da hatten Weiß und seine Freunde bei einer Tengelmann-Filiale gefragt, ob sie die Ware bekommen, die weggeschmissen wird. Die Lebensmittel wurden für sie in einer Kiste zur Abholung rausgestellt. Heute sind die Tonnen abgeschirmt, kein Herankommen für Mülltaucher. Die fahren ins Umland, denn in der Stadt gibt es ohne kriminelle Energie nichts zu holen. Unter Dumpstern ist München als die Stadt verschrien, in der es in Deutschland am schwierigsten ist.

In Berlin beispielsweise haben sich Mülltaucher organisiert, tauschen ihre Schätze aus und veröffentlichen in Foren, wo es was zu holen gibt. Die Bewegung entstand Mitte der 90er Jahre in den USA. In Städten wie New York gab es dort sogar eigene „Trash Tours“ – Container-Führungen für Neulinge in dieser Szene. Rechtlich ist die Situation schwierig: Der Müll in den Tonnen gehört den Supermärkten.

Allerdings werden Verfahren wegen Diebstahls von Müll oft wegen Geringfügigkeit eingestellt. Deshalb belangt man die Dumpster wegen Hausfriedensbruch. Erst im Februar dieses Jahres wurde jedoch in Lüneburg beim so genannten „Keks-Prozess“ ein Politaktivist freigesprochen, der abgelaufene Kekse aus dem Müll gefischt hatte. „Heute habe ich keine Lust mehr, um drei Uhr in der Nacht aufzustehen und meine Lebensmittel zusammen zu suchen“, sagt Weiß. Er ist ein ad-hoc-Einkäufer, kauft nur das, was er an einem Tag braucht. So ist alles frisch und vergammelt nicht im Kühlschrank.

 

Die Fakten

 

- Mindestens ein Drittel der globalen Lebensmittelproduktion landet auf dem Müll. Entweder während der Ernte, Verarbeitung und Verteilung oder durch die Verbraucher. Schätzungen für Industrieländer gehen von der Hälfte aus.

- Rund ein Viertel des gesamten Wasserverbrauchs der Erde wird für die Produktion von Lebensmitteln vergeudet, die vernichtet werden.

- Eine Durchschnittsbäckerei wirft 10 bis 20 Prozent ihrer Tagesproduktion weg. 

- Jeder Deutsche entsorft jährlich Lebensmittel im Wert von 330 Euro.

- Der Ausschuss und seine Entsorgung sind eingeplant und werden auf alle Waren umgelegt. Alle zahlen dafür.

 

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