Eine der letzten Werkstätten verstummt: Trauriges Aus am Gärtnerplatz in München
Wenn man über die Türschwelle der Schreinerei nahe des Gärtnerplatzes tritt, bleibt die Zeit für einen Moment stehen – als hätten die alten Räume über Jahrzehnte hinweg Erinnerungen gesammelt und sie dann wie einen kostbaren Schatz bewahrt.
Jedes Möbelstück scheint in einer anderen Mode entstanden zu sein. Jede Maschine in einer anderen Phase des technischen und mechanischen Fortschritts. Und bei jedem noch so kleinen dekorativen oder praktischen Detail meint man, die Handschrift einer weiteren Person zu entdecken.
Jahrzehnte hat der Schreiner Tobias Pahl (58) hier – in der Reichenbachstraße 10 – zugebracht: zuerst als Lehrling, dann als eingemieteter Selbstständiger, später als Hauptmieter. Und die Geschichte der Werkstatt reicht noch viel weiter zurück als nur zu dem Zeitpunkt, an dem Pahl als junger Mann selbst zum ersten Mal über die Türschwelle trat und um einen Ausbildungsplatz bat.
Mietvertrag gekündigt
Die Baujahre der teils sehr alten Maschinen deuten darauf hin, dass in dem Hinterhof seit mindestens 70 Jahren geschreinert wird. Nun muss die Geschichte hier enden: Ihm wurde der Mietvertrag gekündigt.
"Es tut gut, darüber zu reden"
Tobias Pahl sitzt auf einer Bierbank in der Werkstatt und nippt an seinem Kaffee. Er trinkt ihn schwarz, ohne Milch – so wie er eben ist: gerade heraus, ohne viel Aufhebens. "Ich habe lange überlegt, ob ich das machen soll", gesteht der Münchner, "aber es tut gut, darüber zu reden“. Er ist sich sicher, dass das Gespräch mit der AZ nichts an der Kündigung ändern wird – aber das ist auch nicht sein Ziel.

Der Möbelbauer scheint längst akzeptiert zu haben, dass hier für ihn Schluss ist. Dennoch hätte er sich von den Vermieterinnen einen anderen Umgang gewünscht. Das Verhältnis sei schon lange angespannt gewesen – eigentlich schon immer, seit die Töchter den Häuserkomplex samt Werkstatt vor ein paar Jahren von ihrer Mutter übernommen haben, erzählt Tobias Pahl. So hätte man der Werkstatt beispielsweise die Miete immer weiter erhöht – auch während der Coronazeit.
Bis März muss der Betrieb geräumt sein
Laut Pahl sei dies aufgrund eines Indexmietvertrags zwar durchaus rechtens. Solche Verträge sind an die Inflation gekoppelt und dürfen regelmäßig erhöht werden. Für die Schreiner bedeutete es aber eine zusätzliche finanzielle Belastung. Vor der Übernahme der Schwestern hätten sie noch etwa 1500 Euro gezahlt, mittlerweile seien es circa 2300 Euro. Doch auch damit ist bald Schluss.
Bis spätestens März müssen er und seine Kollegen den Betrieb geräumt haben. Mit ihm sind noch zwei weitere Schreiner in der Werkstatt eingemietet: Katharina Scherer und Peter Wiedemann. Außerdem hat er einen Mitarbeiter und eine Auszubildende.
Was aus der alten Werkstatt wird? Ungewiss
Was nach ihrem Auszug aus der alten Werkstatt wird? Darüber gibt es bisher nur Vermutungen. Pahl kann sich vorstellen, dass die Werkstatt abgerissen wird und an die Stelle Apartments gebaut werden. Er und die anderen Mieter hätten auch schon einmal Vermessungen im Hof beobachtet, erzählt er.

Falls es aber Pläne gibt, scheinen die zumindest noch nicht offiziell zu sein. Die Lokalbaukommission teilt der AZ mit, "dass für das Grundstück weder ein Bauantrag/ Vorbescheidsantrag vorliegt noch aktuell Bauberatungen dokumentiert sind“. Für den 58-jährigen Schreiner ändert das alles nichts – er und seine Kollegen müssen gehen.
Viele Hürden als Handwerker
Wenn der Münchner von den verschiedenen Etappen seines Berufslebens erzählt, merkt man, dass er nicht zum ersten Mal vor einer schwierigen Entscheidung steht, was die Existenz der Werkstatt betrifft. Mit den Jahren überwand der Handwerker viele Hürden: Ausstiege von Kollegen, finanzielle Herausforderungen und dergleichen. Und dann kamen die Jahre, in denen sich vieles zum Guten wendete.
Er erinnert sich an die Zeit um 2013 als eine neue Schreinerin einzog und frischen Wind in den Hinterhof in der Reichenbachstraße brachte: "Dann ist hier eigentlich die schönste Zeit angegangen. Ganz besonders wegen der Katharina Scherer, die sich hier eingemietet hat. Sie hat einfach eine ganz andere Stimmung reingebracht. Auf einmal waren Blumentöpfe draußen, es gab ein System, Ordnung, Sauberkeit und so. Das hat viel dazu beigetragen – auch wie man miteinander umgeht.“
Eine Schreinerin ist die einzige, die im Beruf bleibt
Neben der Bierbank liegt auf einer großen Ablage eine Sammlung von knapp 20 Brotzeitbrettl in verschiedenen Größen – jedes für sich ein kleines Kunstwerk. Keines gleicht dem anderen, jedes zeigt ein einzigartiges Muster aus hellem und dunklem Holz. Mal kariert, mal gestreift, und manchmal fragt man sich, wie man so ein Muster überhaupt hinbekommt, nur aus Holz.
Katharina Scherer hat sie gemacht. Sie wird die einzige der noch verbliebenen drei selbstständigen Schreiner sein, die im Beruf bleibt, erzählt Tobias Pahl. Eine neue Werkstatt zu finden, sei jedoch nicht so einfach. Nebenbei habe Katharina Scherer inzwischen angefangen, an einer Berufsschule Praxisunterricht zu geben.
Ihr Kollege findet das gut: "Das ist auf jeden Fall schon mal ein Standbein.“ Für ihn selbst ist das aber nicht der Weg, den er ab hier gehen wird. Der gelernte Holzhandwerker hat sich entschieden: Mit dem Auszug wird er das Schreiner-Sein für immer aufgeben. Der Münchner will sich stattdessen an etwas ganz Neuem versuchen.
"Der hat geniale Ideen"
Ebenso wie er wird auch Peter Wiedemann seinen Schreinerberuf niederlegen, sagt Pahl. Aber nicht wie er für ein neues berufliches Abenteuer, sondern für den wohlverdienten Ruhestand. Bisher hatte Wiedemann ein Standl am Marienplatz. "Der macht lauter kleine Figürchen, was halt typisch für den Weihnachtsmarkt ist.“
Wenn Tobias Pahl über seinen Kollegen spricht, merkt man, wie unterschiedlich die beiden wohl sind – sowohl in dem, was sie herstellen, als auch in der Art und Weise, wie sie es tun. Und zeitgleich schwingt in seinen Erzählungen eine Faszination mit: "Der hat geniale Ideen.“
"Und dann kommt so ein Hype und alles Mögliche wird verdrängt"
Etwa was das Schleifen seiner Holzteile angehe, erzählt er. "So wie Steine am Strand die ganze Zeit hin und her gespült werden und durch den Sand irgendwann ganz rund werden, so hat er an einer langsam laufenden Bohrmaschine einen Eimer mit Sand befestigt. In den Eimer legt er seine Holzteile und so laufen die den ganzen Tag und werden glattgeschliffen.“
In wenigen Wochen wird in der Werkstatt wohl zum letzten Mal ein Holzfigürchen sein Sandbad genommen haben – und das letzte Brotzeitbrettl von Katharina Scherer geölt worden sein. Tobias Pahl findet das freilich schade, aber "andererseits denke ich mir, wir sind selber daran schuld, dass wir solche Entwicklungen immer zulassen. Als ich hierhergezogen bin, war das noch ein Scherbenviertel. Da hat es nicht viele Leute interessiert. Und dann kommt so ein Hype und alles Mögliche wird verdrängt. So nimmt es einfach seinen Lauf.“
Ein neues Kapitel beginnt
Für den gelernten Schreiner beginnt hier jedenfalls ein neues Kapitel: Er will als Quereinsteiger den Lokführerschein machen. Ende März wird er zum letzten Mal über die Türschwelle der Schreinerei treten. Dann endet die Geschichte dieser Werkstatt – eines Ortes, der zeigt, wie schön es sein kann, in die Jahre gekommen zu sein.
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