Ein Wimmelbuch über Corona in München: "Verrücktes war ganz normal"

Irina Brüningk und Borja Clemente haben wie viele andere Münchner in der Pandemie gelitten. Die Zeit haben sie in einem Wimmelbuch verarbeitet.
Hüysein Ince |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Die Lieblingsseite des Paares in "Alles Anders": die Jahnstraße. Oben links sitzt Borja Clemente am Homeoffice-Rechner, sein Kind liegt in der Wiege. Nebenan backt Irina Brüningk mit ihrer Tochter.
Die Lieblingsseite des Paares in "Alles Anders": die Jahnstraße. Oben links sitzt Borja Clemente am Homeoffice-Rechner, sein Kind liegt in der Wiege. Nebenan backt Irina Brüningk mit ihrer Tochter. © Brüningk/Clemente

AZ-Interview mit Irina Brüningk und Borja Clemente: Beide sind Informatiker und arbeiten in internationalen Unternehmen.

AZ: Herr Clemente, Frau Brüningk, woher stammen ihre Eindrücke im Wimmelbuch "Alles Anders"?
IRINA BRÜNINGK: Natürlich aus der Jahnstraße, von daheim und aus der Nachbarschaft. Sehen Sie hier (wir schlagen das Wimmelbuch auf). Da sind wir im dritten Stock.
BORJA CLEMENTE: Da sitze ich am Homeoffice-Rechner. Also man erkennt wirklich sehr viele Menschen wieder in den Wimmelbildern.

Irrer Alltag war während Corona normal

Ich sehe da hinter Ihnen das Kind in der Wiege. Was haben Sie da unter dem Tisch?
BC: Eine Art Mini-Stepper. Damit man bei dem vielen Sitzen in Bewegung bleibt.

Und hier daneben sind Sie, Frau Brüningk?
IB: Ja, nur mit Locken.
BC: Als die Pandemie losging, war Irina in Elternzeit, unser Kind kam gerade auf die Welt. Von heute auf morgen begann Homeoffice. Und wir konnten das meistern, weil Irina auf die Kinder aufgepasst hat.
IB: Meine Eltern hätten uns gerne unterstützt in der Phase. Aber man hatte ja so große Sorge, dass man vor allem ältere Leute mit dem Virus ansteckt, auch ohne es zu wissen. Also hielten wir Distanz zu ihnen.

Borja Clemente und Irina Brüningk mit ihrem Corona-Wimmelbuch.
Borja Clemente und Irina Brüningk mit ihrem Corona-Wimmelbuch. © Foto: Daniel von Loeper

Wimmelbuch hält Ausnahmezustand fest

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Wimmelbuch zu erstellen?
IB: Mir kam der Gedanke bei einem Spaziergang, als ich sah, was sich alles geändert hat im Viertel. Ich kam nach Hause und sagte zu Borja: Wir müssen ein Wimmelbuch machen. Wir wollten diese Zeit unbedingt festhalten. Menschen vergessen so schnell. Unsere Vorstellung ist gewesen, dass wir uns auch in fünf bis sechs Jahren mit unseren Kindern zusammensetzen, das Buch aufschlagen und ihnen davon erzählen und zurückschauen, wie extrem diese Situation für alle gewesen ist.

BC: Irina kam nach Hause und sagte: Ich habe Sachen gesehen, die sind eigentlich völlig verrückt, aber zur Zeit sind sie völlig normal. Wie zum Beispiel Menschen, die ihren ganzen Körper bedeckt und sich maskiert hatten, man sah nur noch die Augen. Oder diese riesigen Warteschlangen, die eigentlich gar nicht so lang waren, aber die Leute mussten ja Abstand halten. Restaurants, die nur noch über das Fenster Essen ausgegeben haben.

Wie haben Sie die Lage gemanagt?
BC: Erst einmal hatten wir, wie gesagt, Glück im Unglück, durch die Elternzeit von Irina. So konnte ich weiterarbeiten. Das war bei vielen Familien anders. Und die Kinder im Hintergrund bei digitalen Meetings, ob visuell oder akustisch, das wurde ja zum Glück schnell zur Normalität. Man hörte und sah völlig selbstverständlich die Kids - oder auch Hunde und Katzen.

Wer nicht raus kann, wird kreativ

Stimmt. Anfangs wirkte das noch skurril.
IB: Ich glaube, wir sind auch kreativ geworden, weil man mit den Kindern zeitweise nicht rausgehen konnte. Spielplätze waren ja zu Beginn mit rot-weißem Band abgesperrt. Auch das haben wir in dem Wimmelbuch festgehalten.

Was ließen Sie sich einfallen?
IB: Mit den Kartons von den Lieferdiensten haben wir gebastelt. Häuser, Roboter...
BC: ...Raketen...
IB: ...auch geschaut, dass wir Struktur hatten. Wir wollten zu den Großeltern der Kinder unbedingt Kontakt halten, trafen uns digital und sangen uns Lieder über den Tabletcomputer vor - was anfangs noch sehr ungewohnt gewesen ist.

"Manche haben im Badezimmer gearbeitet"

Wie ging es weiter, als Sie sich entschieden haben, das Wimmelbuchprojekt durchzuziehen?
IB: Wir sammelten Ideen. Borja begann Ende 2020, Skizzen zu zeichnen. Bis wir realisiert haben, was für ein Aufwand dahintersteckt. Es ist ja unser erstes Werk. Daher wollten wir das professionalisieren. Wir hatten über den Tag nicht viel Zeit. Und dann kontaktierten wir unsere tolle Illustratorin Eva Hoppe.

Wie holten Sie Ihre Eindrücke?
IB: Wir haben mit vielen Familien gesprochen. So entstanden Bildchen wie hier, sehen Sie (Brüningk schlägt das Buch auf). Vater und Sohn im Spiderman-Kostüm. Das hat uns mal ein Vater erzählt, der mit seiner Familie in einem Hochhaus wohnt. Er hat sich mit seinem Sohn so verkleidet, um den Corona-Alltag aufzulockern. Und hier sehen Sie meine Schwester (Sie zeigt auf eine Frau, die mit Kopfhörern in der Dusche sitzt). Sie musste während der Pandemie mit ihrem Partner umziehen und hatte wenig Platz. Da hat sie sich wirklich mal ins Badezimmer gesperrt, um in Ruhe zu arbeiten.

"Konserven horten - das versteh ich. Aber Toilettenpapier?"

Was sind die Themen der Wimmelbilder?
IB: Überforderung, aber auch Innigkeit. Eine Familie hat uns mal erzählt, dass es ihnen sehr wichtig war, sich regelmäßig in den Arm zu nehmen. Auch Mangel ist ein Thema. Man bekam ja viele Sachen einfach nicht mehr. Oder diese Schilder: 2G, 3G, die Schließungen.

Ich sehe auf diesem Bild jemanden, der sehr viele Sachen im Zimmer ausgelegt hat. Geht es da um zu viele Bestellungen
BC: Nein, da ist das Thema Ausmisten.
IB: Viele Familien haben ja die Lockdowns genutzt, um ihre Wohnungen zu entrümpeln.

Richtig. Diese Warteschlangen an den Wertstoffhöfen ...
BC: Die Leute haben ihren Alltag neu designed. Mit Homeoffice hatte man ja plötzlich viel weniger Platz. Auch wir haben viel ausgemistet.
IB: Wir wollten auch unsere Küche schöner machen. Dann haben wir festgestellt, dass es unmöglich war, sich in der Pandemie eine neue Küche zu besorgen, weil plötzlich so viele die Idee hatten, eine neue Küche zu bestellen.

Alles so realistisch wie möglich zeigen

Freunde von mir warteten damals ein halbes Jahr auf ihre Küche.
IB: Andere Geschäfte haben gelitten. Auf diesem Wimmelbild sehen Sie zum Beispiel Wintermode im Schaufenster eines geschlossenen Geschäfts, aber es ist schon Sommer.
BC: Am Ende war das Ziel, so viel wie möglich aus der ganzen Pandemiephase zu zeigen. Wir mussten viele Skizzen aussortieren und haben nur die besten genommen.

Was ist ihr Lieblingswimmelbild?
BC: Natürlich die Jahnstraße. Da haben wir am meisten daran getüftelt, weil es für uns recht ungewohnt war. Da steckt wahnsinnig viel Zeit und Liebe drin.

Und Ihres, Frau Brüningk?
IB: Auch die Jahnstraße. Weil man da so gut sieht, wie solidarisch wir alle waren, wie nach Lösungen gerungen wurde. Hier auf diesem kleinen Bild sieht man gut, wie Leute anfingen, Masken zu nähen, aus Stoff.

Ein Kinderbuch zum Erinnern und Entdecken

Völlig vergessen. Selbstgenähte Stoffmasken. Man sieht auch Momente der Verzweiflung, wie das verwüstete Kinderzimmer.
IB: Natürlich. Das hat es auch gegeben. Wir wollten ein Kinderbuch gestalten, das aber nicht zu dramatische Szenen zeigt. Davon gab es ja reichlich.

Was ist Ihre Lieblingsszene?
BC: Da muss ich nachdenken. Hmm, ich glaub hier, das Horten von Toilettenpapier, dieser Berg. Das habe ich nie verstanden, warum die Leute so viel Angst davor hatten, kein Toilettenpapier mehr zu haben. Konservendosen mit Fertiggerichten, das leuchtet mir ein, aber Toilettenpapier?

In Frankreich waren angeblich zuerst die Weinregale leer. War es Ihnen wichtig, Humor in diese Zeit zu bringen?
BC: Auf jeden Fall. Wichtig war uns auch das, was im Untertitel steht: Wie wir es meisterten. Wir haben es geschafft. Es war eine ernste Zeit. Sie hat aber viel Gutes in den Menschen hervorgebracht. Und jetzt sitzen wir hier und geben uns wieder die Hand, ohne Masken.
IB: Ich muss wiederholen: Wir hatten viel Glück. Kein Todesfall in der Familie, keine Arbeitslosigkeit, sichere Jobs. Dafür sind wir sehr dankbar.

"Für Kinder war es hart, niemanden sehen zu dürfen"

Wollten Sie mit dem Buch auch zeigen, wie absurd alles war?
IB: Absurd ist ein zu hartes Wort. Eher, wie normal viele Dinge plötzlich wurden. Hier: Eltern, die ihren Kindern mit Wattestäbchen hinterherlaufen.

Lesen Sie auch

Was war für Sie die härteste Zeit der Pandemie?
BC: Die Lockdowns.
IB: Ich glaube, für die Kinder war es hart, dass sie niemanden mehr sehen durften, keine Großeltern, keine Freunde.
BC: Auch die Unplanbarkeit war eine Herausforderung. Wenn man ein Familientreffen organisiert hatte und irgendwer plötzlich corona-positiv war. Dann musste man im Ernstfall alles wieder absagen.
IB: Aber wir müssen im Rückblick unbedingt das Positive hervorheben. Deutschland und viele andere Länder hatten einen enormen Digitalisierungsschub durch Corona.


Castillo-Verlag.com, 15 Euro, z.B. Glockenbachbuchhandlung

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.