Ein Racheakt: „Ekelhaft und sadistisch“
MÜNCHEN - So langsam kristallisiert sich ein Motiv heraus, warum zwei Buben die alte Dame so quälten: Offenbar gab sie immer großzügig Bares gegen Hilfe – und diese Geldquelle drohte zu versiegen.
Für den Nachbarsbuben war die alte Geigerin aus dem Nebenhaus offenbar ein Goldesel. „Aus zehn Euro wurden auch schon mal hundert Euro“, bestätigte Kriminaldirektor Frank Hellwig gestern der AZ. Hundert Euro dafür, dass der 13-Jährige ab und zu Einkäufe für die 83-Jährige erledigt. Ein saftiges Taschengeld! Liegt hier das Motiv für die schreckliche Tat des 13-Jährigen?
Wie berichtet, besuchte der Nachbarbub am Montag die alte Frau in deren Zwei-Zimmer-Wohnung in Milbertshofen. Er brachte einen gleichaltrigen Freund mit, den er aus der Schule kennt. Die vermeintliche Hilfsbereitschaft schlug dieses Mal völlig um: Stundenlang misshandelten und erniedrigten die noch strafunmündigen Buben die völlig hilf- und wehrlose Frau. Sie zwangen die allein stehende Rentnerin, die unter Osteoporose (Knochenschwund) leidet, einen halben Liter Jägermeister zu trinken, sprühten ihr Rasierschaum in den Mund sowie Maggi und Parfüm in die Augen. Zum Schluss sollen sie sogar auf die am Boden liegende Frau uriniert haben. Kriminaldirektor Hellwig spricht von einer „ekelhaften und sadistischen Tatausführung“.
War die erschütternde Tat möglicherweise ein Racheakt? Am Rosenmontag gerieten die 83-Jährige und der Nachbarbub aneinander. Er wollte Fasching feiern und drehte die Musik in der Wohnung der Rentnerin laut auf. Die 83-Jährige, die jahrzehntelang als erste Geigerin an einem Münchner Theater gespielt hatte, fühlte sich gestört. Der Streit endete damit, dass der Nachbarbub der Frau gegen das Schienbein trat und sie nichts mehr mit dem Buben zu tun haben wollte.
In diesen Tagen bekam die Rentnerin auch erstmals Besuch von einem gesetzlichen Betreuer. Er prüfte mögliche Hilfsangebote für die 83-Jährige. Ihm war die Barzahlung für Hilfsdienste von Nachbarskindern sofort ein Dorn im Auge. Er wollte sich um professionelle Hilfe kümmern. Für den 13-Jährigen bedeutete das: seine Geldquelle versiegte. Fiel er deswegen mit solch unfassbarer Brutalität über die frühere Gönnerin her? Auch wenn die Kinder für ihre Tat nicht bestraft werden können, weil sie noch nicht 14 sind, will die Polizei nun überprüfen, ob Geld vom Konto der Frau fehlt.
Sowohl der Nachbarbub als auch sein Freund, der im Landkreis München wohnt, kommen aus schwierigen Verhältnissen. Beide hatten bereits mehrmals wegen jugendtypischer Delikte wie Ladendiebstähle mit der Polizei zu tun. Beide gingen auf Förderschulen, beide rissen immer wieder von zu Hause aus und beide wachsen ohne Väter auf, ihre Mütter sind allein erziehend. „Es ist auch besser, dass sich der Vater in der Familie nicht mehr blicken lässt. Unter ihm haben alle gelitten“, erzählt eine Nachbarin über die Familie des einen Buben. Beide galten als verhaltensauffällig: Dazu gehörten lautstarke Wutausbrüche oder stundenlanges Trommeln mit den Fäusten gegen Wände. Die Mütter gelten als völlig überfordert.
Bei dem Bub, der neben der Geigerin wohnt, schaltete sich das Jugendamt erstmals ein, als der Kleine acht Jahre alt war. „Seitdem war er engmaschig in Betreuung“, sagt Jugendamtsleiterin Maria Kurz-Adam. „Die Familiensituation ist extrem belastet“, der Bub leide unter einer seelischen Behinderung. Die Mutter soll immer sehr kooperativ gewesen sein.
Seit der Tat wird der 13-Jährige in der Heckscher Klinik betreut. Er hatte angekündigt, dass er sich das Leben nehmen wolle, wenn er jetzt in ein Heim käme.
Wie es nun weiter geht? Kann die Spirale der Gewalt unterbrochen werden? Die Jugendamtsleiterin erklärt: „Wir arbeiten an einer sicheren Unterbringung und an einer sicheren Hilfe.“ Eine Möglichkeit wäre eine geschlossene Unterbringung, zum Beispiel in Birkeneck (Hallbergmoos).
Der andere Bub, der unter einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leidet, durfte zunächst wieder nach Hause zu seiner Mutter. Gestern tat er das, was er schon oft tat: Er lief von zuhause weg, musste von der Polizei gesucht werden.
Anne Hund, Nina Job und Julia Lenders
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