Ein Engel unter dem Eiffelturm

Michael Stadler war Kulturredakteur bei der AZ – bis er München verließ, um in Paris auf die Schauspielschule zu gehen. Hier schildert er, wie es ihm in der Stadt der Liebe ergeht. Diesmal in seinem Tagebuchs: Ein Engel unter dem Eiffelturm.
von  Abendzeitung
Michael Stadler
Michael Stadler © privat

PARIS - Michael Stadler war Kulturredakteur bei der AZ – bis er München verließ, um in Paris auf die Schauspielschule zu gehen. Hier schildert er, wie es ihm in der Stadt der Liebe ergeht. Diesmal in seinem Tagebuchs: Ein Engel unter dem Eiffelturm.

Ist das ein Engel unter dem Eiffelturm? Ganz in Weiß gekleidet sitzt er da, in der Nähe des Südpfeilers. Erst als ich näher komme, sehe ich, dass er sich schminkt, das Gesicht weißelt für die nächste stille Show. Überall gibt es Spektakel in Paris, im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit bekämpfen und ergänzen sie sich gleichermaßen. Im Schatten künstlerischer Größtleistungen glänzen die Details. Die lebende Statue steht bald kerzengerade da, und es ist schon merkwürdig, dass an so einer der Blick hängen bleibt, dass bald die ersten kommen, um ein wenig Geld in den Beutel vor ihr zu werfen – damit sie sich bewegt. Stillstand ist schwer zu ertragen, in einer Großstadt wie Paris sowieso.

Warten gehört zur Tagesordnung

Und doch: Warten gehört zur Tagesordnung. Die Schlange vor der Kasse frisst dreißig Minuten Lebenszeit, dann muss man vier Euro lassen – um selbst richtig in Bewegung zu kommen, nach oben, die Stufen hoch, heute nur bis zur zweiten Plattform, weil die dritte aus irgendwelchen Gründen geschlossen ist. Klar, einige nehmen auch die Seilbahn am Ostpfeiler – faule Touristen. Ich werde zusammen mit anderen Helden die Stufen erklimmen. „Ha, ischdeshoch!“, meint ein Schwabe weiter vorne, den Blick ins komplexe Stahlstrebengewitter gerichtet. Hinter mir scherzt eine betagte Französin mit ihrem Mann: „C’est très, très bon pour ta coeur“. Er ächzt. Eine Wohltat fürs Herz ist er also, der 300 Meter hohe Turm plus 20 bis 24 Meter hoher Fernsehantenne (meine beiden Reiseführer sind sich da uneinig). Und wie später ein Schild verrät, kann man sogar noch sein mathematisches Vermögen trainieren. Stufen zählen. Ich spare mir das und verlasse mich auf die Marker am Treppenrand. Bis zur 2. Etage sind es 668 Stufen. Bravo, denke ich, oben angekommen, und klatsche mir zufrieden auf den pain-au-chocolat-Bauch.

Der Blick ist erste Sahne

Der Blick ist erste Sahne. Die Stadt entblättert sich vor mir wie ein Botticelli-Modell kurz vor dem Akt. Ein mächtiges Panorama. Ich sehe alles, dort hinten im Nordosten die gläserne Kuppel des Grand Palais, weiter hinten, nordöstlicher, die engelsweißen Türme des Sacré-Coeur. Wenn man auf der einen Seite des Eiffelturms runterschaut, sieht man die weit schweifenden Flügel des Palais de Chaillot. Auf der anderen Seite die Grünflächen des Champ de Mars, an dessen Ende der prächtige Bau der École Militaire stramm steht. Auf dem Rasen hat man eine riesige Plane ausgebreitet, auf der die EU-Staaten zu sehen sind. Frankreich feiert den EU-Ratsvorsitz 2008. Man ist stolz. Plötzlich eine Attacke aus dem Hinterhalt. Eine Killertaube versucht im Tiefflug mein Gesicht zu zerflattern. Doch sie hat mit meinen Reflexen nicht gerechnet. Ich drehe mich zur Seite, sie fliegt gurrend auf eine Mülltonne. Chapeau, Stadler. Danach entfliehe ich der kanonartigen Eiffelturm-Hymne zweier Amerikanerinnen („It’s marvelous, marvelous, isn’t it?“ „Yes, it’s marvelous…“) und steige die 668 Stufen wieder hinab.

Ist das eine Zukunftsperspektive?

Unten sorgt die lebende Statue weitgehend leblos für Furore. Ein Junge wirft eine Münze in ihren Beutel. Sie dreht den Kopf. Kollektives Staunen. War sie etwa auf meiner Schauspielschule? Ist das eine Zukunftsperspektive? Ich laufe sinnierend den Champ de Mars hoch. Vor der École Militaire, unter dem strengen Blick des General Joffre, spielen ein paar Jungs Fußball. Joffre, in einer Reiterstatue verewigt, errang im 1. Weltkrieg den Sieg für die Franzosen bei der ersten Schlacht an der Marne. Den Jungs mag kein Tor gelingen. Zumindest nicht, während ich zuschaue. Immerhin: sie bewegen sich kostenlos. Und mei, wie sie mit dem Ball tanzen, hin und her, rechts wie links, diese Bewegungen, ach, die sind scho’ schön, elegant, ja, himmlisch.

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