Droge Internet: Ärzte schlagen Alarm
98 Prozent der Jugendlichen sind online – und kommen immer häufiger nicht mehr davon los, sitzen zehn und mehr Stunden vor dem Computer. Täglich. Ein Münchner Kongress will aufrütteln.
München -Ein Leben ohne Internet? Für 75 Prozent der Deutschen ist das nicht mehr vorstellbar, schon alleine aus beruflichen Gründen. Die Abhängigkeit vom Netz nimmt bei einigen Menschen jedoch bereits krankhafte Formen an. Der 12. Interdisziplinäre Suchtkongress der DGS (Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin), zu dem 700 Fachärzte nach München gekommen sind, hat sich deshalb das Thema Internetsucht als Schwerpunkt gesetzt. Und die Ärzte schlagen Alarm. Fast alle Jugendlichen (98 Prozent) sind online, berichten Markus Backmund (DGS) und Christoph Möller, Kinderpsychologe aus Hannover. Sechs Prozent von ihnen sind süchtig. Tendenz steigend. Insgesamt liegt der Anteil der abhängigen User bei gerade einmal 1,3 Prozent. Jugendliche sind also überproportional vertreten. Rund 560000 Deutsche gelten als süchtig nach dem Internet. [
Was macht das Internet gerade für Jugendliche so attraktiv?
Wer erwachsen wird, durchlebt eine konfliktreiche und stressige Zeit. Ein 14-Jähriger, der ein Außenseiter ist, bekommt im Netz schnell Kontakte, ist bei Rollenspielen erfolgreich und wichtig, erläutert Möller. Aussehen oder Kleidungsstil spielen dabei keine Rolle, wer gut im Team agiert und Punkte sammelt, erfährt Anerkennung. Das ist verlockend. In der Realität aber isoliert sich der Jugendliche damit immer weiter. Ein Teufelskreis, aus dem schwer auszubrechen ist.
Viele Menschen sind oft online. Was genau macht die Sucht aus?
Charakteristisch ist der Kontrollverlust über den täglichen Konsum und psychische Spannungen, die daraus entstehen. Onlineabhängige Menschen vernachlässigen auch Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Körperpflege.
Welche Formen der Internetsucht gibt es?
Fast alle Formen der Internetinhalte haben auch Suchtpotenzial: Das können Chats und Mails, Pornos, interaktive Spiele, Shoppingportale, aber auch Informationsangebote sein. Dass Onlinesüchtige nur Trash konsumieren, ist ein verbreiteter Irrglaube. Auch Seiten wie Wikipedia können, exzessiv konsumiert, süchtig machen, wenn sich der User von Artikel zu Artikel hangelt und dabei keinen Schlusspunkt findet.
Wie sehen die Symptome aus?
Ein starkes Verlangen, das nicht mehr kontrolliert werden kann, zählt zu den wichtigsten Symptomen. Die Stärke der Abhängigkeit kann wie bei anderen Süchten zu körperlichen Entzugserscheinungen führen. Wer nicht online gehen kann, weil der Computer defekt oder nicht in Reichweite ist, wird nervös und reizbar. Der Süchtige braucht immer längere Zeiten vor dem Computer, leidet unter depressiven Verstimmungen. Jugendliche, denen der Zugang verboten wird, reagieren aggressiv.
Ist Internetsucht eine anerkannte Krankheit?
Die Ärzte haben ein Problem. Eindeutige Kriterien, um eine Internetsucht zu diagnostizieren, fehlen. Dementsprechend zurückhaltend sind die Kassen bei der Finanzierung von Therapien. „Das ist auch ein finanzielles Problem“, sagen die Ärzte.
Warum ist Internetsucht so gefährlich?
Die Krankheit kann sich leicht im Verborgenen entwickeln und verstärken. Anders als bei Alkohol- und Drogensucht gibt es selten eindeutige Symptome. Oft wirken Betroffene einfach überarbeitet und müde, weil sie sich abends nicht vom Computer losreißen können und dann bis frühmorgens wach bleiben. Ein Unterschied zu anderen Drogen liegt auch darin, dass das Internet vergleichsweise günstig zu haben ist. Eine Flatrate kostet inzwischen nur noch wenige Euro im Monat. Teuer kommt die Sucht auf lange Sicht natürlich trotzdem – wenn etwa das Berufsleben darunter leidet, was bis in die Arbeitslosigkeit führen kann.
Wie kann man die Sucht behandeln und vorbeugen?
Spezielle stationäre Therapie-Einrichtungen gibt es so gut wie keine in Deutschland. Ein guter Ansprechpartner kann aber der Hausarzt sein, der zu einem geeigneten, mit Suchtproblemen erfahrenen Psychologen oder Therapeuten überweist. Ein Problem der Therapie liegt darin, dass anders als bei Alkohol oder anderen Drogen eine dauerhafte Abstinenz fast unmöglich ist. In erster Linie geht es darum, dass Interesse der Betroffenen an Offline-Aktivitäten zu wecken. Das ist bei Kindern und Jugendlichen auch die beste Vorbeugung. Motto: Keine Fußball-Simulation ist so schön wie ein Spiel im Englischen Garten!
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