Doppelt so viele Kinder in München müssen aus ihren Familien gerettet werden

925 Kinder mussten 2024 in München Obhut genommen werden – doppelt so viele wie 2020. Wie hoch die Arbeitsbelastung bei den Sozialarbeitern ist, hat eine der AZ erzählt. Sie sagt, immer häufiger weinen ihre Kollegen vor Stress. 
von  Christina Hertel
Die Zahl der Inobhutnahmen in München hat sich mehr als verdoppelt.
Die Zahl der Inobhutnahmen in München hat sich mehr als verdoppelt. © Jan Woitas

Sie habe im April eine Liste angefangen, erzählt Marina Schuster, die eigentlich anders heißt: "Tage, an denen ich am liebsten kündigen würde, aber es nicht tue, weil ich meine Miete zahlen muss." 25 Striche seien drauf. Schuster arbeitet als Sozialarbeiterin im Jugendschutz für die Stadt. Eine ihrer Aufgaben ist, Kinder vor Gewalt zu bewahren.

Ihren echten Namen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Denn sie überlegt nicht zu kündigen, weil sie ihren Job nicht mag – sondern weil sie überlastet sei. Weil sie das Gefühl habe, ihre Arbeit nicht so machen zu können, wie es nötig wäre.

Und das gehe nicht nur ihr so. "Es passiert immer häufiger, dass ich die Bürotür aufmache und dann sitzen da Kollegen, die weinen, weil sie den Stress nicht aushalten", erzählt die Sozialarbeiterin. Bisher sei es eher ein Gefühl gewesen, dass der Stress und die Fälle und deren Komplexität zunehmen.

"In Obhut werden Kinder nur genommen, wenn eine Gefahr für Leib und Seele besteht"

Jetzt gibt es dafür einen Beleg – schwarz auf weiß. Das Sozialreferat hat eine Anfrage der Linken zu dem Thema beantwortet. In der Antwort lässt sich nachlesen, dass sich die Fälle, in denen Kinder in Obhut genommen werden mussten, zwischen 2020 und 2024 mehr als verdoppelt haben: von 421 auf 925 Fälle. "In Obhut werden Kinder nur genommen, wenn eine Gefahr für Leib und Seele besteht", erklärt die Sozialarbeiterin. Also zum Beispiel, wenn Eltern ihr Kind misshandeln.

Immer häufiger komme es aber auch vor, dass Eltern von sich aus darum bitten, dass ihnen das Jugendamt die Kinder abnimmt. "Sie sagen: Sie schaffen es nicht mehr. Zum Beispiel, wenn sie krank sind und alleinerziehend", sagt Marina Schuster. Auch die "Gefährdungseinschätzungen", also die Fälle insgesamt, sind gestiegen: von rund 3500 Fällen im Jahr 2020 auf fast 3990 im Jahr 2024.

Nicht beantworten kann das Sozialreferat, wie oft das Jugendamt mit keiner passenden Maßnahme helfen konnte. Das habe statistische Gründe. Die Linke kritisiert: Das bedeute in der Praxis: "fehlende Transparenz, fehlende Steuerung und letztlich fehlender Schutz für Kinder."

Wenn man der Sozialarbeiterin glaubt, kommt es häufig vor, dass Kinder nicht die Hilfe bekommen, die sie bräuchten. Weil alles voll sei: psychiatrische Stationen, Pflegefamilien, Heime, soziale Hilfsangebote. Weil überall gespart werde. Weil überall Personal fehle.

Auch in ihrem eigenen Haus. Weil das Rathaus sparen will, werden Stellen nicht mehr nachbesetzt. Bei der Bezirkssozialarbeit, zu der auch der Kinderschutz gehört, werden erst neue Leute eingestellt, wenn weniger als 80 Prozent der Stellen besetzt sind. Stand März waren laut Sozialreferat 83 Prozent der Stellen besetzt, 78 Prozent der Kollegen waren einsatzfähig – also nicht in Elternzeit, Mutterschutz oder lange krankgeschrieben.

"Immer häufiger nehmen Kollegen Akten mit nach Hause"

"Trotzdem heißt das nicht, dass wirklich 80 Prozent der Leute da sind", sagt die Sozialarbeiterin. Schließlich sei auch mal jemand im Urlaub. Oder krank. Das führe dazu, dass immer häufiger Kollegen Akten mit nach Hause nehmen, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr hinterherzukommen.

Linken-Chef Stefan Jagel fordert deshalb, dass die Stadt den Einstellungsstopp bei der Bezirkssozialarbeit aufheben muss. "Kinderschutz darf nicht der Haushaltsdisziplin geopfert werden", sagt er. Es sei höchste Zeit zu handeln.

"Es ist höchste Zeit zu handeln", sagt Linken-Chef Stefan Jagel.
"Es ist höchste Zeit zu handeln", sagt Linken-Chef Stefan Jagel. © Christina Hertel

Etwas richtig Schlimmes sei noch nicht passiert, sagt die Sozialarbeiterin. "Kein totes Baby im Blumenbeet, zum Glück." Priorisieren müsse sie schon. "Und damit geht es niemandem gut."

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.