Die Vorschul-Philosophen

Hat Gott eine Gottin? Sind Einhörner allwissend? Im BMW-Kindergarten diskutieren die Kleinen weltbewegende Fragen
Fragen, das sind kleine Zettel, die laufen innen im Körper hoch. Mara zeichnet mit der rechten Hand nach, wie die Fragen vom Bauch, über den Brustkorb, den Hals hoch wandern. „Dann kommen sie aus dem Mund der Lehrerin, unsichtbar“, erklärt Mara. Ein Dutzend Vorschulkinder folgt dem Weg ihrer kleinen Hand.
Ein anderes Mädchen denkt, dass die Fragen zwar aus dem Bauch kommen, aber über den Kopf in den Mund wandern. „Haben nur Erwachsene, wie die Lehrerin, Fragen?“, hakt ihre Erzieherin Katrin Fischer nach. „Nein“, rufen alle Wackelzahn-Münder und ziehen das Wort lang, bis auch das letzte Kind in den Chor einstimmt. „Auch Kinder brauchen Fragen“, sagt Mara, obwohl sie den bunten Rede-Wuschel schon zu ihrer Erzieherin geworfen hat.
Wer das bunte Wollknäuel bekommt, darf reden. Die anderen hören zu und dürfen nicht unterbrechen. Ist das Kind mit seinem Gedanken am Ende, wirft es den Wuschel zur Erzieherin. Das sind die Regeln, wenn philosophiert wird im Betriebskindergarten der „Strolche“ von BMW. Das Wichtigste ist, dass niemand ausgelacht wird. Es könnte ja sein, dass just dieser eine Gedanke der Richtige ist.
Immer montags ist die Philosophiestunde der „Wackelzahnkinder“, so heißen jene Buben und Mädchen, die ab dem kommenden September die Schule besuchen. Die Kinder, die in leisen Momenten den Zeige- oder Mittelfinger im Mund haben und an den Schneidezähnen fühlen. Das Thema der heutigen Stunde: Was sind Fragen?
Um zu philosophieren, das wissen die Kinder, braucht man keinen weißen Bart und tiefe Falten. Man kann dazu auch das Salatdressing vom Mittag an den Backen haben und behaupten, man sei „sechs Trilliarden Jahre alt“.
Die Kinder warten in Socken vor der Tür des Bewegungsraumes. Im Herbst haben sie Grablichter bemalt und beklebt, die einen Gang bilden. Hier gehen sie durch, einer nach dem anderen und dann durch die selbstgebastelten Säulen. Wer drin ist, spricht nicht mehr. Die meisten Mädchen gehen auf den Zehenspitzen wie Ballerinas, rollen den Fuß langsam ab und nehmen die Schultern zurück. Die Jungs haben feste Schritte und blicken konzentriert auf den PVC-Boden.
Die Begrüßung im Stuhlkreis ist auch so ein Ritual: Die Kinder sagen das schwierige Wort „Phil - O - So - Phie - Ren“ gemeinsam und machen zu jeder Silbe eine Bewegung. Bei „Phil“ bilden sie mit den Armen ein V über dem Kopf. Das heißt, ich denke über die ganze Welt nach. Beim „O“ klatschen sie. Das heißt, ich habe eine Idee.
Die Erzieherinnen lesen weder Descartes, Kant, noch den alten Platon. Sie haben in Schulungen der „Akademie Kinder philosophieren“ gelernt, sich zurückzunehmen und nicht zu versuchen, den Kindern mit den eigenen Gedanken und Ideen eine Richtung vorzugeben.
Sabine Aigner führt Protokoll. So können sie und ihre Kolleginnen später nachvollziehen, was funktioniert hat oder wo sie sich zu sehr in die Diskussionen eingemischt haben. Die Erzieherinnen hatten eigentlich gelernt, strukturiert und zielgerichtet mit den Kindern zu arbeiten. Beim Philosophieren gibt es keine Lösung, kein Ziel. Nur immer neue Fragen.
Katrin Fischer will wissen, ob es jemanden gibt, der keine Fragen hat. Neun Hände schnellen in die Luft. Marie fängt den Wuschel gerade noch so. „Der Elefant. Er weiß, wann es was zu essen gibt. Und der Leopard. Die erleben jeden Tag das gleiche.“ Dann ist ein Junge dran. Er hat ganz rote Backen, als er sagt „Gott hat keine Fragen.“ Wie er darauf komme, fragt ihn die Erzieherin. „Weil er alles erschaffen hat“, erklärt er.
Der Wuschel geht zu Julian, der Bezug auf die erste Rednerin nimmt. „Aber Marie, alle Tiere haben Fragen. Weil die kleinen Tiere die Großen fragen müssen, wie man was zu essen bekommt.“ Die anderen Kinder nicken.
Mara allerdings kennt Tiere, die keine Fragen haben, Einhörner. Das Mädchen neben ihr verknotet ihre Finger über dem Kopf und streckt dabei die Arme. Den Wuschel fängt sie nicht, der landet in ihrem Schoß. „Aber Mara, es gibt keine Einhörner.“ Ein wenig traurig sagt sie das, weil Mara so gerne daran glauben möchte. Aber ihre Stimme sagt auch, dass ihr Einwand richtig ist. Um zu antworten, bekommt Mara den Wuschel. „Auch in der Fantasie haben sie keine Fragen.“
Ein anderes Mädchen muss ganz dringend noch einmal zurück zu Gott. „Gott hat Fragen“, sagt es. „Der hat eine Gottin, seine Mama. Die fragt er auch: Wollen wir spielen? Wenn Gott erwachsen ist, ist die Gottin seine Frau. Die fragt er dann: Wollen wir zusammen essen?“
„Sind irgendwann alle Fragen gestellt?“, will die 31-jährige Erzieherin wissen. Julian hat gegähnt und mit seinen Finger gespielt. Doch jetzt streckt er langsam seinen Zeigefinger in die Luft. „Wenn es die Sonne nicht mehr gibt, gibt es nichts mehr. Auch keine Fragen.“
Seit einer halben Stunde fordert Katrin Fischer die Kinder heraus, lässt sie immer neue Aspekte beleuchten. Es ist ruhig. Die Popos rutschen über die Stühle, die Hände wandern unter die Schenkel. Ein Kind drückt sich mit beiden Händen vom Stuhl ab. Für einen Augenblick berührt der Popo die Sitzfläche nicht mehr. 45 Minuten lang voll dabei zu sein, ist ziemlich anstrengend.
Deshalb gibt es danach etwas zu essen. Auf einem Teller in der Mitte des Stuhlkreises sind Nüsse, Kiwi und Äpfel. Im ersten Jahr, das war 2005, kamen immer weniger Kinder, weil sie nach dem Philosophieren immer so hungrig waren. Seit das geklärt ist, gibt es Obst und Nüsse und die Kinder kommen wieder.
Neben dem Knabberteller steht ein Einmachglas. Es ist nicht irgendein Einmachglas, es ist ein philosophisches Fragenglas. Die Zettel darin sind die Grundlage für dutzende Philosophiestunden. „Was ist hinter dem Universum?“ steht auf einem. „Muss man immer spielen?“ auf einem anderen. Diese Fragen wandern von den Bäuchen der Vorschul-Kinder, über ihren Brustkorb und Hals in den Kopf und aus dem Mund heraus. Dann schreibt die Erzieherin die Fragen auf und legt sie in das philosophische Einmachglas.