"Die Sucht reißt die Mädchen in den Abgrund"

Eine Münchnerin muss mitansehen, wie ihre magersüchtigen Zwillinge einen mörderischen Wettstreit ums Gewicht austragen. In der AZ erzählt sie von Angst, Ohnmacht und Lösungen
Interview: Anne Kathrin Koophamel |
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MÜNCHEN 15 Kilo in 15 Wochen: Mit 14 Jahren hungerte sich Marie aus München auf knapp 40 Kilogramm herunter. Wenige Monate später folgt ihre Zwillingsschwester Anna ihr in die Magersucht. Beide Mädchen hungern bis über das Limit, müssen mehrmals in die Klinik eingewiesen werden, um zu überleben. Heute, mit 18 Jahren, machen die Münchner Zwillinge ihr Abitur und haben wieder ein Normalgewicht. Ihre Mutter Caroline Wendt hat ein Buch über die Zeit geschrieben, in der die Sucht die Familie zu zerstören drohte.

AZ: Frau Wendt, warum haben Sie ein Buch für Mütter von magersüchtigen Kindern geschrieben und nicht für die Erkrankten?

CAROLINE WENDT: Weil ich mich über die Vorurteile den Eltern gegenüber ärgere. Magersucht wird durch Leistungsfamilien gemacht, durch versäumte Liebe und so weiter. Die Verantwortung wird schnell der Mutter zugeschoben und ich habe mich von den Therapeuten oft an den Pranger gestellt gefühlt. Und das, wo man als Mutter so extrem mitleidet. Ich möchte andere Mütter mit meinem Buch entlasten. Es hilft, wenn man weiß: Andere sind genauso hilflos.

Was haben Sie letztlich gegen Ihre Ohnmacht getan?

Ich habe Hilfe von außen geholt. Mein Mann und ich haben früh begriffen, dass die Krankheit unsere Familie überfordert. Man selbst ist zu nahe dran, um mit den Mädchen sprechen zu können. Eine Therapie dämmt das Gefühl der Hilflosigkeit, aber weg geht es nie.

Warum?

Mütter ernähren ihr Kind ja noch vor der Geburt. Die Magersucht geht an diesen Kern der Mütterlichkeit. Wenn dein Kind vor dir verhungert, möchtest du es natürlich am liebsten füttern, aber genau das ist falsch. Stattdessen musste ich lernen, loszulassen, wegzuschauen, nicht zu kontrollieren.

Was, wenn man den Verdacht hat, mein Kind ist magersüchtig?

Vertrauen Sie Ihrem unguten Gefühl, selbst wenn Ihr Kind leugnet, krank zu sein. Von solchen Beteuerungen darf man sich nicht einlullen lassen, ebenso wenig von dem Versprechen, dass ab morgen mehr gegessen wird. Das passiert nicht. Wenden Sie sich an eine Beratungsstelle und reden Sie ruhig mit Ihrer Tochter, dass Sie es dahin gerne mitnehmen würden. Und warten Sie damit nicht. Denn die Sucht reißt die Mädchen rasant in den Abgrund.

Man sagt, Magersüchtige müssen erst tief fallen, ehe sie wieder gesund werden können.

Ja, aber das ist als Mutter sehr schwer zu akzeptieren. Ich weigere mich bis heute, meine Töchter fallen zu lassen, aber ich habe gelernt, loszulassen. Man darf aber unterstützen und sollte die Wahrheit sagen: Du bist krank.

Wie oft haben Sie versucht, Ihre Töchter zum Essen zu zwingen?

Tausendmal, aber das ist nicht gut. Wichtiger ist, dass man dem Kind sagt, dass man sich Sorgen macht und versucht zu erfahren, was hinter der Krankheit steckt. Das Hungern ist nur ein Symptom.

Wie stark hat die Magersucht Ihre Familie belastet?

Sehr, es ist eine zerstörerische Sucht, die die ganze Familie vereinnahmt. Aber man muss lernen, dass man sich auf keinen direkten Kampf mit der Magersucht einlässt, sondern den geliebten Menschen dahinter sieht. Die Mädchen hungern nicht, weil sie ihre Eltern verletzen wollen. Die Suchtkranken leiden am meisten.

Wodurch haben Ihre Mädchen erkannt, dass sie krank sind?

Bei dem Therapeuten, der ihnen auf den Kopf zugesagt hat, dass sie krank sind. Man braucht Hilfe von außen.

Was war mit Lehrern, Freunden?

Niemand hat etwas gesagt, dabei hätte ich mir das so gewünscht, dass mir jemand beispringt: ein Lehrer, der Pfarrer oder eine Freundin. Doch viele haben die Mädchen noch für ihre Schlankheit bewundert. Natürlich leugnen die Mädchen, wenn man sie direkt mit der Sucht konfrontiert. Aber oft finden Leute außerhalb der Familie auch den Zugang besser.

Wie geht es Ihren Töchtern heute?

Beide sind stabil, machen ihr Abitur und möchten dann ausziehen. Sie wollen in anderen Städten studieren und die Magersucht hinter sich lassen.

Haben Sie keine Angst, dass wieder heimlich gehungert wird?

Nein, ich bin absolut zuversichtlich, weil auch ich nicht mehr jeden Tag schaue, isst mein Kind drei Mahlzeiten. Wenn die Sucht kommt, dann habe ich auch in unserem Haus keine Macht über sie. Wichtig ist, dass man sich als Mutter selbst verzeiht. Keiner trägt Schuld.

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