Die Geschichte der Armut in München
München - Zustechende Wachen, hungernde Menschen, erste Hilfsangebote: AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz berichtet über die Geschichte der Armut vom 16. bis ins späte 19. Jahrhundert.
Arme gehörten im "alten München" zum gewohnten Stadtbild. Sie fielen nicht auf, wenn sie noch so zerlumpt und ausgehungert daherkamen. Nur als Bettler, als die Ärmsten der Armen, wurden sie auffällig. Deshalb versuchten die Ratsherren im Oktober 1562, das Bettelwesen erstmals durch eine Verordnung zu regeln, wonach notleidende Mitbürger aus einem separatem Unterstützungsfonds versorgt werden sollten. Im Zuge von Gegenreformation und herzoglicher Macht aber wurde das Betteln nur noch Blinden und "Sondersiechen" erlaubt; fremde Bettelleute wurden von den Stadttorwachen mit Spießen zurückgestoßen. Auch der Zutritt in Gotteshäuser war den Lumpenbürgern verwehrt, sie harrten draußen vor der Kirchentür. Dafür besoldete die Stadt eigene Bettelrichter.
Eine Wende wagte der aus Amerika zugewanderte Benjamin Thompson alias Graf Rumford, der als Superminister dem aufklärerischen Kurfürsten Karl Theodor diente. Am Neujahrstag 1790 ließ der frühere Bürgerkriegsgeneral drei Münchner Infanterie- Regimente aufmarschieren und in Gegenwart städtischer Beamter über 2.000 verwahrloste Menschen aufgreifen. Die Aktion diente der Beseitigung des Bettlerunwesens, das längst kriminelle bis katastrophale Züge angenommen hatte. Das bisherige Almosenunwesen sollte sie ablösen. Zu jener Zeit tummelten sich in der Residenzstadt, die etwa 36.000 Einwohner zählte, mindestens 2.600 Bettler beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters.
Errichtung des Arbeitshauses als Meilenstein der Sozialfürsorge in München
Wer dem großen "Petlerfang" anheimfiel sowie Behinderte und Waisen kamen in eine Tuchfabrik in der Au, die der mit vielen Reformen beschäftigte Rumford als Arbeitshaus herrichten ließ – ein Meilenstein der Sozialfürsorge in München. Rumford schuf Werkstätten mit Webstühlen, wo 600 bis 800 arme Männer und Frauen unter Anleitung von Fachleuten allerlei Produkte herstellten, von der (ebenfalls reformierten) Soldatenuniform bis zum Damenschal. Er beschäftigte dort einen Arzt und einen Chirurg. Für Kinder schuf er eine Schule. Nebenbei konstruierte der General einen neuartigen Herd, auf dem er eine Suppe aus Kartoffeln, Brot und Erbsen nach eigenem Rezept kochen und täglich an 2.000 Bedürftige ausgeben ließ.
Doch in der 1808 zur Stadt erklärten Au sowie in den Nachbardörfern Giesing und Haidhausen brodelte die Armut weiter. Wohin sie führte, sah bald ein Mann voraus, der als Wegbereiter der romantischen Naturphilosophie gilt: der 1765 in München geborene Franz von Baader. Er, einer von 13 Söhnen eines herzoglichen Leibarztes, erarbeitete mit seiner Schrift "Über das dermalige Mißverhältnis des Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzender Klassen" eine der ersten Analysen des industriellen Frühkapitalismus.
Von 10.000 Einwohnern gelten nur 400 als "erwerbsfähig"
Viele, zu viele Menschen drängten im 19. Jahrhundert in die Hauptstadt, die ja immer mehr Arbeitsplätze zu bieten schien: im Bau, in Mühlen, im Handwerk und schließlich auch in der Industrie. Besoldet wurden die Beschäftigten vom Land – Lumpensammler, Mörtelträger, Loderer, Kistler, Wäscherinnen, Biermädel und so weiter – denkbar schlecht. Im Nu waren die meist kinderreichen Familien total verarmt.
In den östlichen Vororten blieben die Lebensumstände noch lange besonders prekär. Dort hausten die zugewanderten Menschen in selbstgebauten, oft baufälligen Herbergen aus Holz, die nur im nostalgischen Rückblick als Idylle empfunden werden. Mehrere Familien waren mit den vielen Kindern in winzige Räume gepfercht. Die hygienischen Zustände waren erbärmlich, die zwischenmenschlichen Zustände verheerend. Viele Männer verbrachten die arbeitsfreie Zeit im Wirtshaus oder unter den Isarbrücken. Razzien der Polizei und der Seuchenpolizei änderten wenig.

Bis 1835 bereits war die Bevölkerungszahl in der Au auf über 10.000 gewachsen. Davon waren – nach amtlicher Statistik – tausend arbeitslos, 500 erwerbsbeschränkt und knapp 400 erwerbsfähig.
Die übrigen Männer verdingten sich als Tagelöhner bei Handwerkern, als Fuhrknechte und zunehmend als Bauhilfsarbeiter. In der Landwirtschaft bekam ein Tagelöhner 94 Pfennige auf die Hand gezählt. Entlassungen – mit schnell drohender Verelendung – waren an der Tagesordnung.
Einfach ausgehen? Dienstboten drohte ein Jahr Arbeitshaus
Mädchen und Frauen bemühten sich indes um eine Stellung bei einer "Herrschaft" in der Stadt. Für Dienstboten galten strenge Vorschriften. Gegenüber dem Dienstherren mussten sie ehrerbietig und gehorsam sein, mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit mussten sie ihre Aufgaben erfüllen. Verboten war beispielsweise, ohne Zustimmung des Dienstherrn an Sonn- oder Feiertagen auszugehen. Die Bestrafung war Bestandteil im "Arbeitsrecht". Bei Aufsässigkeit drohte ein Jahr Arbeitshaus.
Die Behörden taten, was sie konnten. Allerdings waren für die Mittellosen im Großraum Münchens grundsätzlich deren Heimatgemeinden zuständig, und die waren damit meist finanziell überfordert. So gab es jahrelang Streit zwischen dem Magistrat und den (erst 1854 nach München eingemeindeten) Gemeinden rechts der Isar. Bis der Haidhauser "Armenarzt" Dr. Winterhalter eine lokale Armen- und Krankenversorgungsanstalt konzipierte. 1834 wurde sie anstelle eines auf "die Gant" gekommenen Kaffeehauses eröffnet. 216 "Individuen" konnten hier versorgt und verarztet werden. Wer verdiente, musste monatlich zehn Kreuzer zahlen. Sonst sprang die Armenpflege ein.
Neue Arbeitsplätze in Manufakturen, in der Gastronomie, im Bauwesen und bei der privaten Eisenbahn, einer technischen Neuheit, machten immer mehr Bürger reich, andere jedoch immer ärmer, weil ihre kargen Einkommen mit den steigenden Preisen und Mieten nicht Schritt hielten.
Große Armut: Ein Tagelohn reicht für ein Kuttelfleisch mit Knödeln
Damit begann ein Prozess, der heute noch oder wieder sichtbar ist: In der Gesellschaft öffnete sich eine Schere. Schon 1847 beklagte der Distriktsvorsteher Traugott Ertel eine "gegenwärtig überhandnehmende Verarmung". Zehn Jahre später erkannte auch der weitblickende Bürgermeister Jakob Bauer "eine bei weitem größere Zahl von Minderbemittelten wie dieses immer der Fall ist, wenn Reichtum in einer Stadt ansteigt". Gleichzeitig mit dem neuen Reichtum wuchs also eine neue Armut, die man amtlich und gut französisch als "Pauperisierung" bezeichnete.

Gefördert wurde diese noch durch zahlreiche Konkurse oder Zahlungsunfähigkeiten von Emporkömmlingen. Der Magistrat, der sich jahrelang zu hohen Investitionen für den bauwütigen König Ludwig I. genötigt sah, war außer Stande, diese neue Armut allein mit städtischen Mitteln zu lindern. Einspringen mussten daher die wieder zugelassenen Klöster, wo Suppenküchen eingerichtet wurden, und wohlhabende Privatleute wie etwa die Freifrau von Hirsch-Gereuth, die einen Millionenbetrag für arme Wöchnerinnen spendierte, oder Michael von Poschinger mit einer großzügigen Spende für Arbeiter, Lungenkranke und Waisen. Letzte Hoffnung vieler verarmter Münchner waren die beiden Pfand- und Leihhäuser.
Die Öffentliche Hand bekam die Armut erst einigermaßen in den Griff, nachdem Bayern 1869 ein Armengesetz erlassen hatte, dessen Anwendung aber allein den Kommunen überlassen wurde. Vorbild war die Industriestadt Elberfeld, wo der revolutionäre Fabrikantensohn Friedrich Engels wirkte. Demnach konnte unterstützt werden, wer sich "das zur Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit Unentbehrliche" aus eigenen Mitteln und Kräften nicht verschaffen konnte. Der Betrag richtete sich nach der jeweiligen Bedürftigkeit, welche streng geprüft und notfalls ärztlich attestiert wurde. Der Wert sollte unter dem ortsüblichen Tageslohn eines Arbeiters liegen.
Das reichte weder zum Leben noch zum Sterben, wie der Volksmund lamentierte. Um mit einer solchen Unterstützung auszukommen, musste wirklich jeder Pfennig umgedreht werden. Sie betrug beispielsweise im Jahr 1878 genau 17 Pfennige pro Tag für einen 44-jährigen Blinden, ehemals Schlosser in Nymphenburg; im Ratskeller bekam er dafür immerhin eine Portion Kuttelfleisch mit Knödel. Aber in der städtischen Suppenküche kostete ein Teller voll ganze 20 Pfennig. Das Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln, die mit vier Pfennigen pro Kilo relativ billig waren.
Aus Scham verzichten viele Arme auf die Almosen
Dabei war diese Art Armenhilfe mit rigorosen Bedingungen verbunden. Bargeld, Lebensmittel, Kleidung, Heizung oder ärztliche Versorgung gab es nur für Bürger mit Heimatrecht. Die strenge Kontrolle und Verteilung oblag angestellten Armenpflegern, die recht willkürlich verfahren konnten. Sie befragten etwa Nachbarn nach beobachteten Wirtshaus-Besuchen von Antragstellern. Viele Mittellose schämten sich und verzichteten gleich auf städtische Almosen. Die Polizei veranstaltete Razzien sogar an Klosterpforten, um "Missbrauch" und "sicherheitsgefährdende Elemente" zu ermitteln. Eifrig waren die Behörden bemüht, ortsfremde Arme abzuschieben, um sie nicht unterstützen zu müssen. Mit Stolz konnte einer der ersten Sozialreferenten feststellen, München habe im nationalen Vergleich die "billigste Armenpflege".
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