Die „Eskimo-Tragödie“: Das Flammende Inferno
Ein Künstlerfasching in München endet 1881 in einer Tragödie: Von einer Sekunde auf die andere stehen ein Dutzend junger Männer in Flammen. Neun Studenten sterben. Ganz Europa spricht über die „Eskimotragödie“.
München - Eine „Kneipreise um die Welt“ ist als Motto der Nacht am Freitag, den 18. Februar 1881, angesagt. Dementsprechend sind alle Räume in Kil’s Colosseum, dem größten Vergnügungspalast der Stadt, exotisch dekoriert und die studentischen Teilnehmer kostümiert. Doch das Faschingsfest endet in einer Katastrophe.
Direkt neben einer Almhütte haben angehende Bildhauer der Kunstakademie eine Eskimo-Höhle aus Pappe aufgebaut, mit einem Hinweis, der traurige Wahrheit werden soll: „Zum blauen Wunder. Heute großer Krach!!!“ Eisberge aus Gips ragen fast bis zur Saaldecke. Zwölf Zöglinge von Professor Wittmann haben aus Rupfen, Pech, Harz und Werg gefertigte „Eisbärfelle“ umgehängt. Sie braten „Häringe und andere Seethiere der arktischen Region“ über einem Talglicht.
Gegen Mitternacht kommt einer der Eskimos, der 32-jährige Adolf Görke aus Breslau, den Flammen zu nahe. „So schnell wie der Gedanke steht der ganze Mann vom Scheitel bis zur Sohle in hellodernden Flammen, im Nu ein Zweiter – in den Saal stürzen zwei Feuersäulen, weit um sich einen gewaltigen Funkenregen verbreitend“, so ein Augenzeuge.
Im Nu stehen ein Dutzend junger Menschen in Flammen. Zunächst merken es nur wenige, und die schütten sofort Bier, Champagner und Wasser auf die lebenden Flammensäulen. Andere im tobenden Saal halten das für einen Jux. Beide Kapellen spielen weiter, die jungen Leute führen, je nach Kostüm und Laune, die Tänze der „wilden Völker“ auf.
Ein großer Brand ist zu befürchten. Denn der Saal ist gefüllt mit brennbaren Gegenständen: Türvorhänge, Tischtücher, Girlanden, Dekorationen. Doch die Feuerwehr, die vorsichtshalber schon anwesend war, kann die Flammen rasch löschen. Es kommt nicht einmal zu einer Panik. Die meisten merken überhaupt nichts von der Tragödie.
Ahnungslos, ungehemmt wird weiter getanzt, gezecht, gejubelt, Fasching gefeiert bis fünf Uhr früh. Das Schauerdrama hat auch nur vier Minuten gedauert. Außerdem haben Sanitätsgehilfen und Feuerwehrleute die verkohlten oder noch lebenden „Eskimos“ schnell beiseite geschafft. Im Korridor, in Garderoben und dann im Krankenhaus sind acht Ärzte und 15 Barmherzige Schwestern unter Leitung von Professor Johann Nepomuk Nussbaum intensiv um sie bemüht. Sie tauchen die zwölf Brandopfer, denen die Haut rauchgeschwärzt in Fetzen herunterhängt, in Öl und warmes Wasser, spritzen Morphium. Einer der Erbarmungswürdigen schreit: „Erschießt oder vergiftet mich doch!“
Noch am Samstag sterben sechs, der Jüngste mit 17 Jahren, der älteste, ein 39-jähriger Photograph, hinterlässt Frau und zwei Kinder. Drei weitere sterben am Montag.
Tausende folgen dem Trauerzug zum Südlichen Friedhof, darunter Prinzregent Luitpold, Bürgermeister Johannes von Widenmayer, der preußische und der sächsische Gesandte. Ein derartiges Begräbnis, so ein Berichterstatter, habe München seit der Pulverexplosion am Karlstor vor 25 Jahren nicht mehr erlebt.
In ganz Europa wurde über die „Eskimotragödie“ berichtet. Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer, der damals in München seinen Doktor der Philosophie machte, beschrieb sie, mit etwas Phantasie geschmückt, in seiner Autobiographie „Lebenslauf eines Optimisten“. In einer Geheimsitzung des Magistrats musste sich Baurat Zenetti gegen Vorwürfe wehren: In jeder Hütte, auch bei den „Eskimos“, habe ein großes hölzernes Wasserschaff gestanden. Auf Brandschutz in Vergnügungslokalen und Bühnenhäusern wurde fortan strengstens geachtet.
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