"Der kleine Diebstahl bietet Abwechslung": Warum immer mehr Senioren Straftaten begehen
Immer mehr alte Menschen geraten in Konflikt mit dem Gesetz. Die Zahl der von Senioren begangenen Straftaten, steigt seit vielen Jahren an. Rund zehn Prozent der Tatverdächtigen sind über 60 Jahre alt. Ein Grund liegt in der Demografie, weil es anteilig mehr Rentner in unserer Gesellschaft gibt. Auch Opfer sind betagter.
Der Münchner Gerontologe (Alterswissenschaftler) Professor Stefan Pohlmann (55) hat mit seinem Team 22 Ex-Häftlinge über 60 Jahre interviewt, die mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe abgesessen hatten.

Ergänzend wertete er Gespräche mit Richtern, Staatsanwälten und Justizvollzugsbeamten aus und analysierte Prozessakten von verurteilten Senioren. In der AZ spricht er über seine Forschungsergebnisse.
AZ: Herr Pohlmann, welche Verbrechen begehen Münchner Rentner?
STEFAN POHLMANN: Schwere Verbrechen sind selten. Dagegen häufen sich Bagatelldelikte. Mit ein Grund ist ein anderes Rechtsverständnis. Das führt zunächst zu Ordnungswidrigkeiten wie das Fällen von Bäumen oder Müllentsorgungen ohne entsprechende Genehmigung. Bei wiederholten Fällen kommt es dann zu einer Geldstrafe. Fehlt dann das Geld oder die Einsicht zum Zahlen, kann dann sogar eine Gefängnisstrafe drohen.
Pohlmann: "Senioren begehen meist leichte Straftaten"
Übertrifft die Zahl der straffälligen Senioren eigentlich bald die der Jugendlichen?
Bei der Alterskriminalität müssen wir mit deutlich wachsenden Zahlen rechnen. Diebstahl, Betrug sind die häufigsten Auffälligkeiten. Senioren begehen meist leichte Straftaten. Das Stadium, dass Rentnerdelikte, die der Jugend übertreffen, ist noch nicht erreicht. Allerdings wird in Fachkreisen die Auffassung vertreten, dass dies nicht so bleiben muss.
Sind Sie bei der Recherche auch auf Beschaffungskriminalität im Alter gestoßen?
Nein. Bei Rentnern gibt es die so gut wie nicht. Auch Delikte wie Schlägereien und Körperverletzungen sind viel häufiger bei Jüngeren anzutreffen. Doch verursachen beispielsweise Störungen der Impulskontrolle vergleichbare Probleme bei älteren Menschen. Solche Konfliktfälle können dann ebenfalls bis hin zur Todesfolge ein tragisches Ende nehmen.
"Ein Diebstahl kann eine Möglichkeit sein, um auszubrechen"
Sie haben Motive herausgearbeitet, wieso Senioren Straftaten begehen. Als Erstes nennen Sie die Langeweile, die Suche nach dem Kick - eine Überraschung. Ist Langeweile das Hauptmotiv für Gesetzesübertretungen im Alter?
Es existiert kein Ranking. Die sieben Motive (siehe unten) haben wir aus Prozessakten analysiert. Wenn das Leben eines alten Mannes oder einer alten Frau ereignislos erscheint, kann ein Diebstahl eine Möglichkeit sein, um auszubrechen. Das löst dann den ersehnten Kick aus. Ein kleiner Diebstahl oder ein Steuerschwindel - das können Regelverstöße sein, mit denen man kokettiert. Sie passieren aus dem Wunsch nach mehr Abwechslung.
Ist es für Senioren einfacher, unbemerkt eine Straftat zu begehen, als für jüngere Menschen?
Nun, wer mit einem Rollator unterwegs ist, kann schlecht eine Bank überfallen. Doch einige Senioren haben uns berichtet, dass sie sich beim Ladendiebstahl sicher fühlten. Sie haben gedacht: Was kann mir schon passieren? Bei mir guckt man nicht so genau. Ich wirke vertrauenswürdig, man wird mich nicht erwischen.
"Viele Rentner halten ihre Haftstrafe geheim"
Ist denn die wachsende Altersarmut für die steigende Zahl an Rentnern hinter Gittern verantwortlich?
Dafür gibt es keinen Beleg. Man habe aus einer Notlage heraus die Gesetze übertreten, wird den Richterinnen und Richtern im Gerichtssaal erzählt. Doch dieses Argument muss man überprüfen. Oft geht es vielmehr um den Versuch, einen bestimmten Lebensstandard zu halten: Im Kaufhaus ein teures Parfüm einstecken oder unnötige Produkte im Internet bestellen - und nicht bezahlen! Beim Online-Einkauf sind Senioren bisweilen überfordert. Wenn allerdings ein bewusster Betrugsversuch unterstellt werden kann, muss man auch hier mit einer Verurteilung rechnen.
Sie haben 20 ältere Männer und zwei ältere Frauen befragt, die aus dem Gefängnis kamen. Was hat die Haft mit diesen Menschen gemacht?
In der Regel haben die Delinquenten die Haft als dramatisch schwer erlebt. Denn ein Senior hinter Gittern passt nicht ins Bild. Viele Rentner versuchen, ihre Haftstrafe geheim zu halten. Das Gefühl von gesellschaftlicher Ächtung ist massiv. Wenn man über 70 Jahre alt ist und sitzt im Gefängnis, zieht man die Bilanz eines gescheiterten Lebens. Das ist schwer auszuhalten. Die Strafe, eingesperrt zu sein - sie ist ein scharfes Schwert.
Welche Spuren kann die Haft hinterlassen?
Die Bilanz ist schlimm. Im Gefängnis altern Senioren schneller. Und je länger die Haft andauert, desto gravierender wird sie empfunden. Es wäre gut, hier neue Modelle zu entwickeln. Ältere könnten Patenschaften für jüngere Straftäter übernehmen. Meine Hochschule ist gefordert, damit Studierende solche Ideen im Auge haben. Und die Politik ist gefordert, sie zu finanzieren.
"Für den Staat sind Rentner in Gefängnissen teuer"
Bitte beschreiben Sie die aktuelle Herausforderung für die Gefängnisse?
Die Krankenstationen sind zu klein für die vielen betagten Insassen. Die bayerischen JVAs Straubing und Würzburg haben bereits Pflegestationen. Haft im Alter kann zwar notwendig sein, aber es ist ein Unterschied, ob ich als 75-Jähriger oder als 25-Jähriger verurteilt werde. Wir brauchen einen humanen und modernen Strafvollzug. Für den Staat ist die wachsende Zahl von Rentnern in den Gefängnissen sehr teuer. Haft soll dabei nicht nur abschrecken, sondern auch die Gesellschaft schützen und Wiederholungsstraftaten vermeiden. Sie soll Menschen aber auch nicht in der Haft zugrunde richten.
Was geschieht in der Zeit nach dem Gefängnis?
Die Hürden sind riesig. Wer als Hochaltriger entlassen wird, sucht eine Wohnung oder einen Pflegeplatz und ist meist stark beeinträchtigt, chronisch krank und ohne familiären Rückhalt. Es ist dann sehr schwer, einen Platz im Pflegeheim zu bekommen. Die Einrichtungen lehnen ab, wenn sie wissen, jemand kommt aus dem Gefängnis. Die Bestrafung endet dann eben nicht einfach mit der Haftentlassung.
"Viele straffällige Rentner zeigen große Reue"
Sehen sie Perspektiven?
Die Theorien des erfolgreichen Alterns spielen hier eine große Rolle: Was sieht der Mensch, der auf sein Leben zurückblickt? Es muss ja nicht alles gut gewesen sein, doch die eigene Lebensbilanz darf auch keine persönliche Totalniederlage sein. Viele straffällige Rentner zeigen starke Reue und möchten wieder ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden. Dazu sollten wir ihnen auch Gelegenheiten bieten.
Wie kann das funktionieren?
Alter schützt vor Strafe nicht. Aber ich fordere ganz klar mehr Kreativität bei der Umsetzung der Strafe. Bei einem deutlichen Fehlverhalten müssen Straftäter dafür angemessen zur Rechenschaft gezogen werden. Doch es ist eine Bankrotterklärung, wenn uns für Senioren nichts anderes einfällt, als sie einzusperren. Eine viel wirksamere Sanktion wären oftmals Sozialstunden, wie sie jugendlichen Straftätern aufgebrummt werden: gemeinnützige Arbeit. Etwas, von dem die Gesellschaft und auch der Betroffene etwas haben.
"Eine Dame zerstach Autoreifen - ihre Strafe war stricken"
Sie meinen, die Strafe für Senioren sollte sein, die S-Bahn-Stationen zu kärchern, im Altenheim Essen zu verteilen oder im Kindergarten vorzulesen?
Es gibt viele Ideen, wie man etwas, das nicht in Ordnung war, wieder reparieren kann, wie den Täter-Opfer-Ausgleich oder die Unterstützung anderer. Es braucht die Bereitschaft festzulegen, welche Form der Sanktionierung für ältere Menschen angemessen ist. Ich meine, es sollte einen Pool von Sozialstunden für straffällige Senioren geben. Alte Menschen sehnen sich nach dem Gefühl, gebraucht zu werden. Etwas tun, was wirklich nützlich für die Allgemeinheit ist, das wäre genau das richtige für sie. Gerade, wenn Straftaten aus Langeweile passiert sind.
Wissen Sie ein Positiv-Beispiel?
Eine alte Dame hat viele Autoreifen zerstochen, weil ihr die geparkten Autos auf der Straße nicht gefallen haben. Vor Gericht wurde sie verurteilt, zu einer Aufgabe, für die sie eine Kompetenz hatte: Sie sollte stricken. Das klingt erstmal absurd als Strafe, aber da ist schon etwas dran. Richter haben bei ihrer Entscheidung viele Freiheiten.
Das Erwachsenen-Strafrecht unterscheidet nicht zwischen einem 40- und einem 80-Jährigen. Sollte es das?
Wichtig für eine Richterin oder einen Richter ist, bei einem 80-Jährigen zu prüfen, ob eine Notlage zugrunde liegt und die Person insgesamt schuldfähig ist. Um das zu beurteilen, braucht man ein Gesundheitsgutachten. Das sollten Sachverständige erstellen, die sich gut mit dem Alterungsprozess auskennen. Leider gibt es noch keine Datenbank, die man dazu nutzen könnte. So ein System einzurichten, wäre aus meiner Sicht klug.
"Ältere Menschen setzen sich schwierigen Situation oftmals erst gar nicht aus"
Mit welchen Tests erkennt man Demenz?
Es gibt viel mehr Demenz-Fälle, als man denkt. Viele Menschen sind ohne Diagnose und ohne Korrektiv. Sie werden dann verurteilt, obwohl sie keine kriminelle Absicht hatten, sondern weil sich ein krankhafter Prozess in ihrem Gehirn abspielt. Eine genaue Diagnose ist aufwendig. Es gibt aber Screeningverfahren, die gute Hinweise geben und Alltagskompetenzen prüfen. Dazu zählt der Uhrentest: Ein Senior bekommt die Aufgabe, ein Ziffernblatt mit einer Uhrzeit zu zeichnen. Dabei bemerkt man schnell, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist.
Verlieren ältere Menschen eigentlich schneller die Kontrolle als Jüngere?
Nein, sie reagieren häufig besonnener. Die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit im Hirn ist zwar oftmals herabgesetzt - dafür setzten sich ältere oftmals unguten Situationen erst gar nicht aus. Natürlich gibt es auch die andere Seite des Alters. Menschen, die schon zuvor Querulanten waren, die schnell Rot sehen und eine kurze Zündschnur haben. Das Alter ist kein Gleichmacher.
Sieben Gründe, im Alter kriminell zu werden
Was sind typische Verstöße im Alter? In der Kriminalstatistik gibt es die höchste Zahl an Tatverdächtigen bei Diebstahl, es folgen Beleidigungen, leichte Körperverletzungen und Betrug.
Die Tatmotive erarbeitete die Forschungsgruppe um Professor Stefan Pohlmann aus der Analyse von Dokumenten und mittels explorativer Befragungen älterer Strafgefangener.
Das Ergebnis: Es gibt sieben subjektive Rechtfertigungskategorien, darunter:
- Langeweile und die damit verbundene Sehnsucht nach Spannung, Ablenkung und Nervenkitzel ("thrill")
- existenzielle Not oder die Angst vor einem sozialen Abstieg ("affliction").
- Weitere Motive sind kognitive Veränderungen oder psychische Störungen ("disorder"),
- Rache und Selbstjustiz ("revenge"),
- unzureichende Einschätzung der Rechtswidrigkeit des eigenen Verhaltens ("pseudo rationality"),
- die aktive Provokation einer Straftat, da die alltäglichen Lebensumstände gegenüber dem Strafvollzug weniger attraktiv ausfallen ("active choice").
- Schließlich führt ein kriminelles Umfeld ("environment") zu Straftaten.
Was genau Straftäter antreibt, ist also höchst individuell.