"Das stimmt gar nicht": Mit welchem Vorurteil über München eine LMU-Professorin aufräumt
München - Mama, Papa, Kind: So sah die klassische Familie im 19. Jahrhundert aus. Tatsächlich ist es aber auch die Konstellation, in der die meisten Kinder heute großwerden, sagt Paula Villa Braslavsky. Sie forscht mit mehreren Universitäten in einem neu gegründeten Verbund zu Fragen des Familienlebens in Bayern. Mit dabei sind unter anderem die LMU und die TU München und die Hochschule Landshut.
AZ: Frau Villa Braslavsky, Sie erforschen das Familienleben in Bayern – was ist denn heutzutage eine Familie?
PAULA VILLA BRASLAVSKY: Eine Familie ist eine auf Dauer verbindlich angelegte Sorgegemeinschaft, in der sich über die Generationen hinweg umeinander gekümmert wird, meist auch in einem rechtlich klar definierten Rahmen. Klassischerweise sind das seit dem frühen 19. Jahrhundert verheiratete Mama, Papa und ein bis drei leibliche Kinder, die alle miteinander wohnen. Das ist die idealtypische Vorstellung. Es ist aber auch tatsächlich die Konstellation, in der auch heute die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen aufwächst.
Tatsächlich?
Ja, gut 70 Prozent der heute unter 16-Jährigen. Und doch gibt es auch immer mehr andere Formen, wie Patchworkfamilien, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Eltern. Jedoch gibt es bei diesen etwas anderen Formen viele Unsicherheiten, zum Beispiel juristische. Zu denen forschen wir.

Inwiefern?
Ich zum Beispiel war mit meinem Ex-Partner nie verheiratet, und wir haben zwei Kinder. Das ist rechtlich zwar kein Problem, aber man muss diese Konstellation immer wieder erläutern, immer wieder das ein oder andere Formular zusätzlich unterschreiben. Oder schauen Sie sich gleichgeschlechtliche Eltern an: Wenn zwei Frauen ein Kind haben, muss eine das Kind adoptieren. Da gibt es Nachbesserungsbedarf. Gerade wenn es um so ungewöhnliche Formen wie Co-Parenting-Familien geht. Also Familien, bei denen die Eltern nie ein Liebespaar waren oder sind. Menschen, die zu zweit oder zu dritt entscheiden, dass sie mit Kind(ern) eine Familie sind.
Familien im Freistaat: "In dieser Vielfalt ist Bayern einzigartig"
Wie kommt es dazu?
Das können Freundinnen sein, oder eine WG. Menschen, die schon immer Kinder wollten, aber keinen Liebes-Partner finden oder wollen. Das Füreinandersorgen bricht hier aus der konventionellen Form heraus, diese Menschen entkoppeln Beziehung einerseits und Kind andererseits. In der Geschichte ist das übrigens nichts Ungewöhnliches: Kinder waren früher Armutsvorsorge, Thronfolger oder Stammhalter, sie entstanden aus einem Nützlichkeitskalkül oder Not, weniger als romantisches Projekt. Die Idee, dass die Eltern romantisch verbandelt sind, gab es nicht überall und immer schon.
Vor 50, 60 Jahren, könnte man meinen, waren Familien ganz anders als heute.
In Deutschland ja. Das hat aber auch damit zu tun, dass es damals deutlich weniger Väter gab. Im Zweiten Weltkrieg waren viele an der Front gefallen oder kamen gebrochen zurück; um die Familien kümmerten sich alleinerziehende Mütter. Dieses Modell "Mama, Papa, Kind" gab es damals auch nicht. Was aber stimmt: Damals gab es keine rechtliche Alternative zu diesem Familienmodell und keine gesellschaftliche Akzeptanz dafür.
Aber die Größe der Familien hat sich verändert?
Das ist auch ein Mythos. Klar: Die Frauen hatten mehr Kinder, weil es keine Pille gab und die christlichen Kirchen mehr Macht hatten. Aber die Idee von der Großfamilie früher hat eher damit zu tun, dass Familien anders definiert wurden. Mägde, Knechte und Tagelöhner gehörten ja fast mit zur Familie dazu oder wurden zumindest zur Hofgröße hinzugezählt.
Sie erforschen das Familienleben in Bayern. Ist das hier anders als in anderen Bundesländern?
Es ist anzunehmen, dass es ein bisschen anders ist. Bayern ist in der Fläche sehr groß und hat sehr unterschiedliche Regionen: Großstädte wie München oder Nürnberg, strukturschwächere, reiche, industrielle, landwirtschaftliche, katholische und protestantische Gebiete. In dieser Vielfalt ist Bayern einzigartig. Da gibt es einige Überraschungen.
LMU-Professorin Paula Villa Braslavsky: "München hat eine sehr fortschrittliche Familieninfrastrukturpolitik"
Zum Beispiel?
Es gibt das Vorurteil, dass München oder Nürnberg wahnsinnig traditionell und konservativ geprägt seien. Das stimmt gar nicht. Beispielsweise ist die Abdeckung mit Krippen- oder Kindergartenplätzen oder auch die Nachfrage danach sehr hoch. München hat eine sehr fortschrittliche Familieninfrastrukturpolitik und ermöglicht viele Familienmodelle.
Wie wichtig ist Familie heutzutage noch?
Total. Familie kann man gar nicht überschätzen. Alle wachsen in Familien auf, in welcher Form auch immer. Diejenigen, die nicht in Familien aufwachsen können, sondern in Heimen großwerden, haben nach wie vor besondere biografische Risiken. Sie leben in Unsicherheit. Familie ist grundlegend dafür, Vertrauen auszubilden, fürs Lernen, für jegliche Entwicklung. Familie kann aber auch sehr bedrohlich, gewalttätig oder schwierig, ein dramatischer Ort sein. Familie ist absolut prägend. Positiv wie negativ.
Welche Themen wollen Sie mit dem Forschungsverbund angehen?
Zum Beispiel forschen wir zu neuen Wohn- und Bauformen, in denen sich mehrere Familien zusammentun. Oder zu Müttern, die von der Forschung für die Genetik ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. Ein anderes Thema sind Familien im Film.
"Das deutsche Bildungssystem reproduziert massiv soziale Ungleichheiten"
Ist jungen Menschen Familie noch wichtig?
Bei jungen Menschen zwischen 17 und 22 steht Familie ganz vorne auf der Wunschliste. Junge Männer wollen nach wie vor aktive Väter sein – sie lösen es zwar schon seit Jahrzehnten nicht ein, aber sie wünschen es sich.
Manchmal ist Familie auch zu wichtig: zum Beispiel, wenn man sich den Bildungserfolg anschaut.
Meine Tochter ist die Tochter von zwei Professoren, sie hat einen Namen, der ganz deutsch klingt, damit ist ihr Bildungsweg mit hoher Wahrscheinlichkeit ein besserer als der vieler anderer Kinder. Das deutsche Bildungssystem setzt darauf, dass die Eltern, üblicherweise Mama, einspringen – sehr viel mehr als andere Bildungssysteme. Das reproduziert massiv soziale Ungleichheiten, das ist ein Riesenproblem.
Wie sieht die Zukunft der Familie aus?
Wir werden weiter eine Stabilität der Familie sehen, allerdings in verschiedenen Formen. Ich hoffe, dass die Politik nachzieht und diesen Veränderungen gerecht wird. In der Familienpolitik ist einiges im Argen: sowohl rechtlich als auch finanziell. Familien leiden. Viele können nicht arbeiten, weil es nicht genug Betreuungsangebote aufgrund des Fachkräftemangels gibt. Andererseits greift die Erwerbsarbeit immer mehr aus, Menschen haben schlicht für die Familie nicht genug Zeit. Die Politik hat da bislang nie eine sinnvolle Lösung gefunden. Man kniet vor der tollen Mutti nieder, aber faktisch gibt es sehr wenig Hilfe für sie. Das Problem ist: Hier kann niemand streiken wie die GDL. Ich kann ja nicht streiken, Familie zu sein.
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