"Da kriegt man schon eine Wut"

Marianne Sladky (78) hat immer hart gearbeitet. Trotzdem bleiben ihr pro Tag nur fünf Euro für Lebensmittel. Zusätzlich machen Angstattacken der alten Dame das Leben schwer.
MÜNCHEN Eines Nachts wachte sie auf und hatte Angst. Mehr noch: Sie hatte Panik. „Ich wusste nicht, was mit mir passiert”, erzählt Marianne Sladky (78). Das Gefühl war so mächtig, dass sie völlig außer sich war. Nicht mal mehr die Namen ihrer Kinder wollten ihr in diesem Moment einfallen. In ihrer Not rief die alte Dame die Polizei.
Noch in derselben Nacht – Marianne Sladky wird das Datum nie mehr vergessen, es war der 11. Juli 2009 – kam sie in die psychiatrische Klinik nach Haar. Wochen und Monate hat sie seither in Krankenhäusern verbracht. Und trotzdem kann es ihr immer noch passieren, dass sich der Alltag ganz plötzlich auflöst – in blanker Angst.
Zum Beispiel, wenn sie auf dem Weg zum Supermarkt ist. Und mit einem Mal wie angewurzelt am Randstein stehen bleibt. Die Straße zu überqueren, eine freie Fläche zu überschreiten: Für sie ist das dann nicht zu schaffen. Als müsste sie nicht einfach weitergehen, sondern auf einem dünnen Drahtseil einen Abgrund überschreiten. Als könnte es ihr beim nächsten Schritt einfach die Füße wegziehen. „Ich bin schon etliche Male umgekehrt”, sagt die 78-Jährige.
Die Diagnose: Agoraphobie (siehe Kasten), Panikattacken und schwere Depressionen. Dabei ist Marianne Sladky bis vor zweieinhalb Jahren eine vitale Rentnerin gewesen. Eine von denen, für die der Begriff „Unruhestand” erfunden wurde. Bis zu ihrem 65. Lebensjahr hat sie als Altenpflegerin gearbeitet. „Ein knochenharter Job – physisch und psychisch”, sagt sie. Aber ein Job, den sie mochte. Deshalb arbeitete sie auch nach ihrer Verrentung weiter im Altenheim, ab da eben ehrenamtlich. Und auch ambulant kümmerte sie sich um hilfsbedürftige Alte. Sie war immer für andere da. Pflegte, fütterte, wusch. Bis heute engagiert sie sich in der Seniorenvertretung und bei der Arbeiterwohlfahrt.
Die eigene Erkrankung kam für sie wie aus dem Nichts: „Ich habe mein ganzes Leben lang geschuftet. Irgendwann war der Topf wohl voll.” Sie habe es gar nicht gemerkt, dass ihre Energie aufgebraucht war.
Leicht hat die Frau es in ihrem Leben nicht gehabt. Ihr Mann erkrankte im Alter von 50 Jahren an Leukämie. 18 Jahre lang wehrte er sich, musste Unerträgliches über sich ergehen lassen. Bevor er im Jahr 2004 am Ende angelangt war. „Wir waren froh, als er sterben hat können”, spricht sie für sich und ihre drei Kinder. Froh, dass er nicht mehr leiden musste. „Das Schlimmste ist, dass man so hilflos ist”, erinnert sich die Münchnerin. Dass jeder Kranke mit seinen Schmerzen letztlich doch allein ist.
Allein. So fühlt sich Marianne Sladky oft. Wenn sie ihre bescheidene 32-Quadratmeter-Wohnung im Münchner Osten tagelang nicht verlässt – und auch niemand zu ihr kommt. Sie freut sich schon, wenn der Postbote klingelt und bei ihr Packerl für die Nachbarn parkt. Weil sie weiß, dass sich beim Abholen wenigstens ein kleiner Ratsch an der Tür entwickeln kann.
Viele alte Menschen kennen diese zunehmende Einsamkeit: Nicht nur der Mann der 78-Jährigen, auch viele ihrer Bekannten sind inzwischen gestorben. Und die Kinder haben ihr eigenes Leben. „Ich war eine große Familie gewöhnt, und auf einmal ist gar keiner mehr da”, sagt Marianne Sladky. „Das hat mir zugesetzt.” Gerade jetzt, wo es so früh dunkel wird, ist es manchmal hart.
Deshalb würde die gebürtige Münchnerin eigentlich auch gerne in dem Altenheim leben, in dem sie früher gearbeitet hat. Doch zuerst müssen noch einige Formalitäten durchgefochten werden. So will ihr die Pflegekasse bislang keine Pflegestufe zuerkennen. Trotz ihrer seelischen und körperlichen Probleme.
Neben der Angsterkrankung und entgleisenden Blutdruckwerten plagen zum Beispiel arthritische Handgelenke die alte Frau. Kürzlich verschenkte sie einen Kohlrabi an die Nachbarin – weil sie die Knolle selbst nicht mehr schälen konnte. Und an den letzten Tag ohne Rückenschmerzen kann sie sich schon nicht mehr erinnern.
Wenn Frau Sladky ihre Lage schildert, wirkt sie alles andere als weinerlich oder mitleidheischend. Ganz nüchtern, Punkt für Punkt, erklärt sie, wie es um sie steht. Nur einmal, da schießen ihr doch Tränen in die Augen. Als es um ihre Geldnot geht. Darum, dass die Abendzeitung mit diesem Artikel um Spenden für sie bittet. „Ich habe mir mein Leben im Alter auch anders vorgestellt, als dass ich quasi betteln gehen muss”, sagt sie da, um dann sofort wieder tapfer zu sein: „Ich lasse mir gar nicht erst einreden, dass es eine Schande ist. Mehr als arbeiten kann man nicht.” Und das habe sie schließlich immer getan – erst als Krankenschwester, dann im Betrieb ihre Mannes und schließlich viele Jahre als Altenpflegerin. „Da kriegt man schon eine Wut.”
Marianne Sladky hat bloß eine kleine Rente, deshalb bekommt sie Grundsicherung. Der Sozialverband Vdk hat für sie ausgerechnet, dass ihr am Tag trotzdem bloß fünf Euro fürs Essen bleiben. Sie hat ihr ganz eigenes System des Haushaltens entwickelt. Sie besitzt mehrere Portemonnaies, in denen sie jeweils das Geld für eine Woche hortet. Ist es weg, spart sie am Essen. „Ich esse ohnehin kaum mehr Fleisch, weil es so teuer ist.”
Für Ausgaben, die außer der Reihe anfallen, reicht es trotzdem nie. Wie kürzlich, als ein defekter Waschmaschinen-Zulauf repariert werden musste. Wie sie die 210-Euro-Rechnung bezahlen soll? Die Renterin weiß es nicht.
Demächst muss die alte Dame am Grauen Star operiert werden. Danach wird sie eine neue Brille brauchen – doch die kann sie sich nicht leisten. Genauso wenig wie die Zahnbehandlung, die ansteht. Ohne Hilfe wird sie den Eigenanteil nicht finanzieren können – und weiter eine Zahnlücke haben.
„Wenn du das Leben liebst, liebt es dich auch”, steht auf einer Karte in einem selbstgebastelten Bilderrahmen, der in dem kleinen Wohn-, Schlaf- und Essraum steht. In den letzten beiden Jahren ist es Marianne Sladky schwer gefallen, ihr Leben zu lieben. Wie auch, wenn die Angst buchstäblich an jeder Straßenecke lauert – und sie selbst daheim nicht verschont. „Aber es ist schon besser geworden”, sagt sie.
Vor ein paar Tagen hat die alte Dame ihre Zeit mit einer kleinen Advents-Bastelei ausgefüllt. Sie hat eine Orange mit Nelken besteckt, damit sie duftet. Das Muster ergab ein Gesicht. Es lächelt.