Cirque Éloize auf dem Tollwood: Metropole macht mobil

Der kanadische Cirque Éloize gastiert mit seiner Show "iD" auf dem Tollwood-Festival.
Michael Stadler |
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Der legendäre Cirque Éloize kehrt mit seiner spektakulären Großstadt-Show "ID" erneut auf das Tollwood Festival zurück.
Theatre T & Cie/Ramiro Coloma Der legendäre Cirque Éloize kehrt mit seiner spektakulären Großstadt-Show "ID" erneut auf das Tollwood Festival zurück.

Zunächst hört man die Geräusche eines Zuges, als ob die Reise von außerhalb startet, hinein in die Großstadt mit nervöser Klangkulisse: Hupen, die Sirenen von Polizeiautos und Ambulanzen. Der Einzelne droht, in der Anonymität der Menge unterzugehen, die über die Bühne im Tollwood-Zelt Grand Chapiteau vor dem aufragenden Relief einer Großstadt hin und her eilt, hinter ihr auf der Videowand ebenfalls Passanten. Aber jeder für sich sieht doch eigen aus, hat seinen Rhythmus, bis die Zeit sich dehnt und die Körper sich verlangsamen. Ein Mann und eine Frau schälen sich heraus und geben ein Duett, bei dem er sie zwischendurch hochstemmt oder sie einen Handstand auf seinem Kopf macht. Sieht so etwa Flirten in der Großstadt im 21. Jahrhundert aus?

Cirque Éloize zum dritten Mal beim Tollwood-Festival

Ein Spiel zwischen der Masse und dem Einzelnen macht der Cirque Éloize seiner Show "iD" auf und entwickeln dabei eine Energie, die den wintermüden Städter zackig aus seinem Burnout reißt. Ihre Identität hat die Compagnie aus Montreal längst gefunden und baut sie immer weiter aus: Bereits zweimal waren sie auf dem Tollwood-Festival schon zu Gast, mit "Cirkopolis" und "Saloon", und man darf von ihnen kraftvolle, auch humorige Akrobatik erwarten – mit viel Experimentierlust am Mischen der zirzensischen Disziplinen, die sich bei "iD" allein schon durch die Anwesenheit eines Rollerbladers und eines Radlers ausdrückt. Letzterer erklimmt mit seinem Trialbike auch mal hüpfend die Bausteine der Großstadtkulisse bis ganz nach oben. Nicht der Berg ruft, sondern die Metropole!

Irgendwo lauert auch ein narrativer Faden in dieser Show. Das Paar, das sich am Anfang begegnet, könnte eine athletische Version von Romeo und Julia sein. Zwei Straßengangs treten auf und batteln sich, als ob sie einer Hip-Hop-Version der "West Side Story" entsprungen sind. Am chinesischen Mast, der hier was von einem überlangen Straßenlaternenpfahl hat, turnt indessen ein Akrobat. Wenn er sich in die Tiefe herabfallen lässt, dann gehen die Gangs unisono in die Hocke, gemeinsam staunend, wobei der Fall kurz vor dem Boden gekonnt abgebremst wird: Poledancing mit kalkuliertem Risiko.

Atemberaubendes Mitmachtheater

Die Erzählung zerfasert bald zu einer Nummernrevue, die mitunter so spektakulär ist, dass man gar nicht merkt, wie der vegetarische oder "Out-Door-Gockel"-Hauptgang des 4-Gänge-Bio-Menüs im Magen seine ersten akrobatischen Verdauungsrunden dreht. Nicolas Fortin lässt Jonglierkugeln gegen Plexiglas springen, was er auch rückwärts im Liegen problemlos schafft. Die Kontorsionistin Nicole Winter verdreht ihren Körper, spinnenhaft, bis die Füße vor dem Gesicht trippeln und Thibaut Philippe holt sich einen Zuschauer aus dem Publikum, um ein paar Stunts mit seinem Trialbike um dessen Körper herum zu machen. Atemberaubender kann Mitmachtheater nicht sein.

Die Männer im fünfzehnköpfigen Team machen unglaublich starke Sachen an den Strapaten, oben ohne, weil (Frauen)augen gerne Sixpacks saufen, oder breakdancen sich einen, als ob die Achtziger nie ein Ende fanden. Einer stapelt Stühle hoch und macht fast unter der Zeltdecke einen Handstand – ein allein beim Zuschauen schwindelerregender Höhepunkt. Die Frauen sind als Gegenparts keine weichen Liebchen, sondern knallhart durchtrainiert, was für die reizenden Nummern mit dem Cyr Wheel, am Luftring oder am Tuch wohl auch nicht schadet.

Immer wieder finden sie zu gemeinschaftlichen Choreographien, in denen Tanz und Akrobatik sich in einem gut organisierten Chaos (Inszenierung: Jeannot Painchaud) verbinden. Während alle vor der Pause durch alle möglichen Seile springen, hier ein Hechtsprung, dort ein Salto und viel Irrsinn mehr, so lassen sie sich zum Finale von oben in die Tiefe fallen und steigen dank Trampolin gleich wieder auf, nutzen den Schwung, um an den Häuserfassaden hochzukraxeln, bis sie wieder oben landen oder in Fenstern verschwinden, um erneut aufzutauchen. Ein virtuoses Gewimmel. Die einzelnen Akrobaten haben ihren Moment im Rampenlicht und ordnen sich immer wieder in die Gruppe ein. Ein austarierter Individualismus. Die Metropole erscheint als Ort fürs harmonische Zusammensein. Und während die tanzen, rotieren, stürzen, fliegen, gucken wir zu, bis das Auge Muskelkater hat.


Grand Chapiteau auf dem Tollwood, Theresienwiese, bis 22.12. (montags und 28.11. spielfrei), Vorstellung mit Vier-Gänge-Menü buchbar, Einlass Menü: 17.30 Uhr, Einlass Vorstellung: 19.45 Uhr, Ticket-Hotline: 0700-38 38 50 24

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