Besuch in einem Hospiz: „Ich bin auf dem Heimweg“

Audio von Carbonatix
Wie Helfer und Angehörige um die Würde der letzten Stunden kämpfen - und wie die Patienten ihren Lebensabend erleben: Reportage aus dem Johannes-Hospiz in München.
In einem kleinen Zimmer im Westen Münchens wartet Frau Schneider auf den Tod. 81 Jahre ist Frau Schneider alt, sie hat eine Krankengeschichte, die für drei Patienten ausreichen würde. Frau Schneider ist geistig voll da. Aber ihr Körper hat sich gegen sie gerichtet – sie hat nicht mehr lange zu leben.
Frau Schneider wählt ihre Sätze bedacht, sie ist eine gebildete Frau und hat ein bewegtes Leben hinter sich. „Wenn man so alt ist wie ich, ist es an der Zeit, dass das Leben vorbei geht“, sagt sie, während die Lampe neben dem Bett wackelt. Das Zittern ihres Körpers überträgt sich auf die Einrichtung des Zimmers. Frau Schneider hat Parkinson. Und Osteoporose. Und Krebs.
Frau Schneider hat keine Zeit mehr. Keiner, der im Johannes-Hospiz der Barmherzigen Brüder in der Notburgastraße 4c liegt, hat noch viel Zeit. 23 Tage bleiben den Patienten im Durchschnitt, bevor sie für immer gehen. Wer hier ist, hat eine unheilbare Erkrankung, die in absehbarer Zeit zum Tode führt. Das ist Voraussetzung für die Aufnahme.
Einige bleiben Monate - andere sterben Stunden nach der Aufnahme
Gregor Linnemann erinnert mehr an einen lockeren Sportlehrer als an einen Mann, der jeden zweiten Tag mit dem Tod zu tun hat. Linnemann ist Chef des Hospizes. In seinem Büro stehen Bücher wie „Der Tod ist groß“ und Ordner mit der Aufschrift „Bedienungsanleitungen Küchen“ – die Arbeit in der Notburgastraße ist vielfältig. Linnemann lacht viel, kann aber in der nächsten Sekunde ernst werden: „Wenn man sieht, wie schnell es gehen kann, nimmt man das Leben als großen Wert.“
Und Linnemann sieht besser als die meisten Menschen, wie schnell es tatsächlich gehen kann. „Einige Patienten bleiben monatelang hier“, sagt Linnemann. „Andere sterben Stunden nach der Aufnahme.“ Die letzten Stunden, Tage und Wochen sollen es die Bewohner des Hospizes so schön wie möglich haben. „Wir versuchen, den Sterbenden ihr Zuhause zu ersetzen“, sagt der 45-Jährige. „Ein Zuhause mit einer klinischen Versorgung.“
Das Hospiz wirkt tatsächlich wie ein Zuhause – es ist kein dunkler, trostloser Ort. Von der benachbarten Grundschule dringt Kindergeschrei in die hellen Flure. Cora und Otto, die beiden Wellensittiche des Hospizes, schreien in dem Wintergarten. Nur ein leichter Geruch verkündet hier manchmal den Tod. Der Tumorgeruch – rund 98 Prozent der Patienten sind krebskrank.
"Menschen, die man intensiv kannte"
Mit Herzklopfen betritt Cornelia Bilecki das Hospiz. Sie wirft einen Blick in das Totenbuch gleich gegenüber dem Eingang. Das macht sie immer zuerst, wenn sie donnerstags hierher kommt – nachschauen, wer innerhalb einer Woche gestorben ist. Routine wird das nie, meint die ehrenamtliche Hospiz-Helferin. „Die Toten waren ja Menschen, die man viel intensiver kannte als seine eigenen Nachbarn – auch wenn die Zeitspanne kürzer war.“
Einmal wöchentlich kommt die 55-jährige Hausfrau und Mutter von drei Kindern für sieben Stunden in das Hospiz. Sie spricht mit den Patienten, wacht bei den Sterbenden, geht den Schwestern zur Hand. So viele Menschen und Geschichten lernt sie kennen. „Manche kaufen sich sogar noch ihre eigenen Möbel“, erzählt Bilecki. Eine Patientin kocht sich selbst ihren Milchreis. Sie meint, dass das keiner so gut kann wie sie, auch in ihren letzten Tagen.
Wenn sie das wollen und können, dann dürfen sie das auch im Johannes-Hospiz. Linnemanns Grundsatz lautet: „Das, was der Patient möchte oder nicht möchte, ist unsere Richtschnur.“
Frau Schneider möchte vor allem wenig Besuch. Viele wollen sie ein letztes Mal sehen - aber Frau Schneider will Ruhe zum Nachdenken. Sie denkt viel über den Tod nach. Sie ist traurig, ja. Aber auch glücklich. „Ich habe es hier so wunderbar. Ich hätte nie gedacht, dass ich es in meinem Alter so schön haben kann.“
Warum?
„Bevor ich hierher kam, hatte ich unglaubliche Schmerzen. Ich habe geschrien. Ich wusste nicht, dass solche Töne aus mir herauskommen können.“
Und jetzt?
„Ich bekomme starke Medikamente, die die Schmerzen abdecken. Trotzdem habe ich manchmal solche Schwächezustände, dass ich nicht einmal mehr telefonieren kann.“
Nachts, wenn die Lichter ausgehen im Johannes-Hospiz, kommt die Unruhe. Die Angst. „Die meisten schlafen erst nach Mitternacht ein“, sagt Schwester Silvia. Wie lange dauert es noch? Die zentrale Frage an diesem Ort. Sie wird umso dringlicher, je einsamer die Patienten sind. Je dunkler es wird.
"Ich bin auf dem Heimweg"
Frau Schneider weiß nicht, wie lange es noch dauert - aber sie weiß: „Ich bin auf dem Heimweg. Manchmal werde ich dabei seekrank, das kann ich nicht verhindern. Auch wenn ich mich wie auf einem Luxusschiff fühle.“
Das Luxusschiff – ein schönes Bild. Und so treffend: Im Hospiz nehmen sich die Pfleger Zeit für den Patienten. Auch über den Tod hinaus: Wer in der Notburgastraße 4c stirbt, darf noch 24 Stunden dableiben, damit die Angehörigen ein letztes Mal vorbeikommen können. Vor dem Zimmer zündet eine Schwester eine Kerze an. Jeder weiß dann: Hier ist jemand gegangen.
Vor Zimmer 4 brennt an diesem Tag eine Kerze. In Zimmer 4 liegt Herr Weiß. Herr Weiß starb um 10:55 Uhr. Seinen Mund hat er noch leicht geöffnet. Die Augen auch. Er trägt ein ausgewaschenes grünes Hemd, in der Hand hält er einen Strauß rote Rosen. Die Finger wirken unwirklich, so weiß wie die einer Wachsfigur. Auf dem Nachttisch steht ein Bild seiner Kinder. Auf der Kommode neben dem Bett liegt eine ausgeklopfte Pfeife und Tabak. So, als würde er noch einmal für eine Rauchpause aufstehen. Herr Weiß starb mit 78, er hatte einen Tumor mit Metastasen in den Knochen, der Leber, der Lunge. Einen Tag vor seinem Tod war er nicht mehr ansprechbar. Am Tag seines Todes lagen 50 Sekunden Pause zwischen jedem Atemzug. Das Leben ist nach und nach aus seinem Körper gewichen. Als seine Familie in das Hospiz kam und sein Zimmer betrat, hatte er gerade ein letztes Mal ausgeatmet. Auf dem Bettlaken sind jetzt liebevoll Rosenblätter ausgestreut. Es sieht friedlich aus. Und auch Herr Weiß selbst strahlt Frieden aus.
"Zufriedenheit, Glück und Ruhe"
Solche Momente sind die kleinen Erfolgserlebnisse in seinem Job, meint Linnemann, der Chef des Hospizes, „im Gesicht eines Toten Zufriedenheit, Glück und Ruhe zu sehen.“ Während er das sagt, klingt das so fernab von einer Welt, wo andere Chefs ihren Erfolg darüber definieren, wie viel Geld sie scheffeln. Welche Limousine sie fahren.
Einmal pro Woche gibt es in der kleinen Kapelle des Hospizes eine Besinnung, wo die Patienten über ihre Ängste und Wünsche reden können. „Am Anfang wünschen sie sich noch, dass sie bald gesund werden“, meint Heike Forster, Sozialpädagogin und Familientherapeutin in der Notburgastraße. „Das verwandelt sich dann: Später wünschen sie sich, dass das, was kommt, sanft ist.“ Auch Schwester Silvia meint: „Oft fragen mich die Patienten, ob sie schmerzfrei sterben werden.“ Viele haben weniger Angst vor dem Tod an sich. Eher Angst vor dem, wie er passieren wird.
Frau Schneider, haben Sie Angst vor dem Tod?
Die alte Dame überlegt. Ihr Blick streift über die Wand, den Fotokalender, den ihr ihre Familie geschenkt hat - „In spiritueller Hinsicht habe ich keine Angst. In medizinischer Hinsicht muss ich mit Ja antworten. Denn wer möchte denn zum Beispiel schon gern ersticken? Und davor habe ich Angst. Nicht vor dem Tod als solchen.“
Kasanobu Serdarov
Auf Spenden angewiesen
Das Johannes-Hospiz (Notburgastraße 4c, Tel. 1795930) wurde im Oktober 2004 gegründet. Es gibt 12 Betten in Einzelzimmern, dazu zwei Appartments für Angehörige. Die Kosten für einen Aufenthalt tragen zum größten Teil Kranken- und Pflegeversicherung, dazu kommt ein Eigenanteil von 500 bis 1000 Euro (je nach Pflegestufe). Ein Teil muss aber über Spenden finanziert werden: Liga-Bank eG, Konto-Nr: 102 223 350, BLZ: 750 903 00.
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