Beim ersten CSD vor 45 Jahren in München: "Mir haben die Knie geschlottert"
325 000 Menschen verwandeln die Innenstadt über Stunden in ein Meer aus Regenbögen. Unzählige Fahnen und Transparente, aufwendige Outfits, viel Glitzer, wummernde Bässe und kämpferische Reden. Im Juni 2024 hat der größte Christopher Street Day (CSD) der Stadtgeschichte stattgefunden. Auf Dutzenden Trucks rollten mobile Tanzflächen durch die Straßen.
Was für ein Kontrast zum ersten Münchner CSD. 1980 habe es keine laute Musik gegeben. Weitgehend still lief der Zug ab – vom Sendlinger Tor über den Viktualienmarkt, Odeonsplatz bis zum Geschwister-Scholl-Platz. So erzählt es Stephanie Gerlach 45Jahre nach ihrer ersten CSD-Demo. Die 64-Jährige ist eine der wenigen Münchner und Münchnerinnen, die heute von dem Ereignis berichten können. Warum?
Sie waren wenige. "Gerade einmal 150 Personen, 120 Schwule und 30 Lesben", sagt Gerlach. Sie wurden eskortiert von Polizeiautos und Motorrädern. Zusammen mit den Zivilen seien mehr Polizisten als Demonstranten auf der Straße gewesen.
"Mir haben schon die Knie geschlottert"
Die 64-Jährige erinnert sich an drei, vier Demo-Transparente, mehr gab es nicht. Ganz vorne, zu sehen auf einer Videoaufnahme, laufen fünf Männer. Zwei tragen ein rosa Transparent mit der Aufschrift "Schwul – na und?"
Stephanie Gerlach war 1980 gerade als Studentin nach München gekommen, sie war 19 Jahre alt. Zum Protestzug hätten sie und ihre Begleiterinnen sich die Gesichter weiß angemalt. Ein Versuch, ihre Persönlichkeit zu schützen. "Mir haben schon die Knie geschlottert", sagt sie. Rauszugehen und sich so zu zeigen, das sei eine große Sache gewesen.

Diese erste Demonstration in München für die Rechte und Sichtbarkeit lesbischer und schwuler Menschen habe in einem "wahnsinnig repressiven Klima" stattgefunden. Homosexualität wurde zu der Zeit teilweise noch strafrechtlich verfolgt und von breiten Gesellschaftsschichten moralisch abgewertet.
Polizei führte damals die sogenannten "Rosa Listen"
Bei der Polizei seien sogenannte "Rosa Listen" geführt worden. Eine Art Index, auf denen Namen schwuler Männer geführt wurden, die als Stricher galten. Die Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die Aids-Politik der CSU in Bayern, aber auch in München, etwa in den Jahren von Kreisverwaltungsreferent Peter Gauweiler (CSU) stand da noch bevor.

Aber immerhin elf Jahre nach Stonewall, nach den Aufständen lesbischer und schwuler Menschen gegen die Polizei 1969 in New York, hatte München seine erste CSD-Demo. Noch nicht laut und stolz, aber mutig und sichtbar. Bis der CSD in München jährlich stattfindet, würde es noch Jahre dauern: bis Ende der 90er. "Es fing mit Demonstrationen an, die Party kam erst später dazu, als wir schon etwas erkämpft hatten", sagt Gerlach.
Seit 2017 berät die Sozialpädagogin im Regenbogenfamilienzentrum lesbische und queere Paare mit Kinderwunsch, Familien, Kitas und Schulen. Stephanie Gerlach lebt mit ihrer Frau zusammen und ist selbst Mutter einer erwachsenen Tochter.
Queere Eltern sind bis heute nicht gleichgestellt
Eine der größten Enttäuschungen innerhalb der lesbischen und queeren Community sei der scheinbar festgefrorene Stand beim Abstammungsrecht. Queere Eltern sind Heteropaaren bis heute nicht gleichgestellt. Seit die Stiefkindadoption 2005 eingeführt wurde, müssten lesbische und queere Eltern immer noch ein "langwieriges Überprüfungsverfahren beim Jugendamt" durchlaufen.
Dabei schien eine Gesetzesänderung im Herbst 2024 bereits zum Greifen nah. Kurz vor dem Aus der Ampel sei die Reform vor dem "ganz großen Durchbruch" gestanden. Dann platzte die Regierung und mit ihr ein Stück Hoffnung der Regenbogenfamilien. "Das wirft uns jetzt um Jahre zurück", sagt Stephanie Gerlach.

Eine politische Forderung, die sie also auch für den kommenden CSD auf Wiedervorlage setzt. An oberster Stelle stehe für sie die Sichtbarkeit und Sicherheit aller queeren Menschen, dafür demonstriert sie heute. Das gelte bei stark gestiegenen Zahlen queerfeindlicher Straftaten besonders. Mit fast 1800 Fällen waren sie deutschlandweit von 2022 auf 2023 um 50 Prozent gestiegen. 1800 Fälle 2023, das sind fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu erschütterten in der vergangenen Pride-Saison Angriffe auf Teilnehmer und Demozüge in Bautzen, Pirna und Leipzig.
In Bayern wiederum wird ein "Genderverbot" an staatlichen Einrichtungen eingeführt, statt mehr Förderung für Antidiskriminierungsarbeit. "Heute merken wir, dass das, was wir uns erkämpft haben, nicht selbstverständlich ist", sagt Stephanie Gerlach. "Das wird erst jetzt so klar, wo wir nicht mehr von einer liberalen Politik ausgehen können und auch gesellschaftlich Queerfeindlichkeit wieder an Raum gewinnt." Es komme ihr vor, wie ein Gummiband. Der Fortschritt habe es die vergangenen Jahre gedehnt, aber nun drohte es zurückzuflitzen. Es sei heute nicht weniger wichtig, für die Rechte und Sichtbarkeit von queeren Menschen und körperlicher Selbstbestimmung auf die Straße zu gehen. Party, Pride und politischer Protest habe für sie schon immer zusammengehört, sagt Gerlach.
"Es ist einer der wichtigsten CSDs seit Langem"
Das Politische betont auch Münchens schwuler Bürgermeister Dominik Krause (Grüne). "Es ist einer der wichtigsten CSDs seit Langem". Queerfeindliche Angriffe kämen zunehmend aus dem rechtsextremen Umfeld. Es wolle Menschen Angst machen, sie wieder in ihrer Freiheit einschränken. Vonseiten der Politik gelte es jetzt, entschieden gegen queerfeindliche Narrative Position zu beziehen. Alle seien dazu aufgefordert, die offene Gesellschaft zu verteidigen und sich solidarisch zu zeigen.
Als Stephanie Gerlach als Studentin mit 150 anderen auf die Straße ging, konnte sie nicht ahnen, was die Community später einmal erreichen würde. Das macht ihr heute Hoffnung, wie die junge, queere Community, die sich wieder breit beteilige. "Das ist erst seit fünf oder sechs Jahren wieder so", sagt Gerlach.
In den 1980ern seien die schwule und die lesbische Community noch "wahnsinnig getrennt" gewesen. Das sei erst in den 90er Jahren aufgeweicht. Die junge, queere Community stehe da – egal ob trans, nonbinär, bi, schwul oder lesbisch – viel selbstverständlicher zusammen. Die eher queerfeministische Ausrichtung gebe allen Anliegen sowie Lebens- und Liebesformen Raum. Solange sie machtkritisch hinterfragt würden.
"In anderen Städten ist der CSD kommerzialisierter"
Das neue Zusammenwachsen zeigt auch das Flaggenmeer am CSD. Einzeln wird die blau-rosa-weiße oder die bisexuelle pink-orange-weiße geschwungen. Aber meistens ist es eben die Progress-Regenbogen-Fahne, durch die auch Schwarze, Transpersonen und nicht-binäre Menschen repräsentiert sind.
Als eine der Vorkämpferinnen der LGBT*-Community hat Stephanie Gerlach das Schlüpfen, Verpuppen, Verwandeln und Wachsen des Münchner CSD 45 Jahre lang begleitet.
Bis zum heutigen Megaevent. Aber wer am CSD nur die Party sehe, sagt Gerlach, habe sich das große Programm der Pride-Weeks nicht angeschaut. "Ich bin stolz auf unsere Stadt und die Community, weil der CSD hier wirklich von den sozialpolitischen Vereinen getragen wird – in anderen Städten ist das viel kommerzialisierter."