Bei Obdachlosen in München: Die kalte Weihnacht

München - Auch wenn er auf der Straße lebt, ein bisschen weihnachtlich muss es schon sein. Unter seiner wattierten Kapuze trägt Niko (68) passend zu seinem Namen eine rot-weiße Nikolausmütze. Im 1-Euro-Shop hat er sich auch Kerzen und eine Lichterkette gekauft. Der Weihnachtsschmuck dekoriert jetzt seinen Esstisch: Eine Kiste, über die er eine Umzugsdecke gelegt hat.
Niko hat sein Lager an den alten Mauern des Sendlinger Tors aufgeschlagen. Jahrzehntelang hat der Spanier, der seit 1989 in Deutschland lebt, auf dem Bau gearbeitet. Für eine Rente reicht es trotzdem nicht, erzählt er. Seine Chefs hätten oft keine Sozialabgaben für ihn gezahlt. "Mir fehlen sieben Jahre zur Rente", sagt er. In seinem Alter findet er nun kaum noch Aushilfsjobs. Schon gar nicht auf dem Bau.
Hilfswerk-Leiter: "Wir müssen viele wegschicken - es tut mir in der Seele weh"
Der 68-Jährige ist einer von 550 bis 600 Menschen in München, die Platte machen, also obdachlos sind. In der Pandemie müssen sie noch mehr entbehren als zuvor. Sich tagsüber mal in einer sozialen Einrichtung bei einer Tasse Kaffee aufwärmen, an einem richtigen Tisch etwas Warmes essen - all das ist sehr eingeschränkt. Die Plätze mussten wegen der Hygieneregeln reduziert werden.

"Jeden Tag um 12 Uhr stellen sich bei uns die ersten an und warten, bis wir um 14 Uhr öffnen", berichtet Franz Herzog vom Evangelischen Hilfswerk. Er leitet den Tagesaufenthalt Teestube "komm". "Früher hatten wir 70 Sitzplätze, die oft nicht reichten, nun können wir nur noch zwölf Gäste gleichzeitig einlassen. Wir müssen viele wegschicken. Das tut mir jeden Tag in der Seele weh."
Der eingeschränkte Zugang zu sozialen Einrichtungen hat auch zur Folge, dass sich Obdachlose seltener waschen und rasieren können. "Winter und Pandemie, das beides zusammen bedeutet, dass viel zu viele den ganzen Tag draußen bleiben müssen", sagt Herzog.
Mindestens fünf Obdachlose starben schon an Corona
Die Obdachlosenhilfe von Sankt Bonifaz musste ihren Speisesaal schließen. "Wir sind nicht gebaut für eine Pandemie", erklärt Frater Prior Emmanuel Rotter (53), der vor 30 Jahren die Obdachlosenhilfe aufgebaut hat und leitet. Statt eines warmen Essens verteilen der Frater und seine Mitarbeiter nun täglich 250 Lunchpakete mit belegten Semmeln, Konserven, Getränk und Schoko-Riegeln.
Der Benediktiner hofft, dass der Winter nicht zu streng wird. Und dass die Obdachlosen nicht vergessen werden, wenn das große Impfen beginnt. Er weiß von fünf obdachlosen Männern, die an Covid erkrankt und gestorben sind. "Die Menschen, die auf der Straße leben, werden kränklich an Seele und Leib, sie gehören auch zu den Risikogruppen."
Es gibt viele Gründe, warum Menschen in die Obdachlosigkeit abrutschen: Jobverlust, Krankheit oder eine Trennung gehören dazu. Etwa 30 Prozent der Wohnungslosen sind Frauen. "Eine Katastrophe ist es immer. Obdachlosigkeit ist die extremste Form von Armut in Deutschland", sagt Isabel Schmidhuber, Leiterin der Einrichtung Karla 51. Die Notunterkunft gibt 55 Frauen und ihren Kindern vorübergehend eine Bleibe.
Wenige weibliche Wohnungslose schlafen auf der Straße
"Frauen, die im Freien schlafen, gibt es in München nur ganz wenige", sagt Schmidhuber. "Sie wären völlig ungeschützt - Freiwild", sagt sie. Die wenigen, die doch draußen übernachten, würden sich einen Unterschlupf suchen wie eine Hütte auf einem Spielplatz oder sie schlafen in ihrem abgemeldeten Auto.
Zur Karla 51 gehört ebenfalls ein Tagescafé. "Für viele ist es zum sozialen Mittelpunkt geworden", sagt die Leiterin. "Auch wenn die Frauen eine Wohnung haben, kommen viele wieder." Vor der Pandemie waren es 30 bis 50 am Tag, jetzt sind nur noch elf gleichzeitig erlaubt. "Wir merken, dass viele vereinsamen."
Viele, sowohl Frauen als auch Männer, haben 2020 ihre Arbeit verloren. "Unsere Bewohnerinnen haben in der Gastronomie, im Museum oder nachts in Tankstellen gearbeitet. Da sind reihenweise Menschen arbeitslos geworden", sagt Isabel Schmidhuber.
Viele Eigenbedarfskündigungen sorgen für Obdachlosigkeit
In diesem Jahr hat sie zudem ein neues Phänomen festgestellt: "Auffallend viele sind wegen Eigenbedarfs gekündigt worden. Vor allem Ältere, die sehr lange in ihren Wohnungen waren." Sie vermutet, dass die Eigentümer die Wohnungen teurer vermieten wollen. "Und die Mieterinnen sich nicht getraut haben, sich zu wehren."
Der Bettelplatz von - nennen wir ihn Karl - ist seit 20 Jahren an der Oper, gegenüber der Chanel-Boutique in der Maximilianstraße. Er möchte seinen Namen nicht nennen. Vor zwei Jahren hat ihm eine Sozialarbeiterin ein Apartment vermittelt. Die Nachbarn sollen nicht wissen, dass er betteln geht.

Zuvor war sein Schlafplatz jahrzehntelang eine Parkbank in einer Grünanlage am Königsplatz. "Am Anfang kam ich immer wieder zurück. Man verlernt das, in einer Wohnung zu wohnen."
Karl war mal Koch, dann riss ihn eine Krankheit in die soziale Not
Der gebürtige Oberbayer war mal Koch. Dann wurde er krank und konnte 20 Jahre lang kaum arbeiten. Inzwischen ist er von dieser Krankheit zwar geheilt, "aber mit 64 kann ich nicht mehr viel arbeiten. Das Leben auf der Straße zehrt."
Dabei lebt er gesund, betont Karl. Alkohol trinke er keinen. "Viele meinen, dass man das Leben nur besoffen erträgt. Aber es ist besser, du bist nüchtern und kriegst mit, was passiert." Fleisch kauft er bei Herrmannsdorfer. "Mit einem Stück Rindfleisch koche ich mir einen Eintopf, der reicht fünf Tage."
Seit vier Stunden hockt er nun auf seinem Thermokissen in der Kälte. Er hat sich ein großes Tuch um die Schultern gebunden, in dem er die Hände vergräbt. Auf dem Kopf trägt er einen Damenhut. Als ihm eine gehbehinderte Frau einen Zwickel in die Hand drückt, erzählt er, dass er 16 Euro gesammelt habe. "Ein Zehner war dabei."
In Coronazeiten meiden die Obdachlosen die Sammelunterkünfte
Es ist Abend geworden. Um 21 Uhr beginnt die nächtliche Ausgangssperre. Niko am Sendlinger Tor könnte in der Bayernkaserne übernachten. Sie hat viele Schlafplätze für Obdachlose. Doch wie viele andere meidet er Sammelunterkünfte. "Jetzt erst recht. Ich will nicht mit vielen zusammen sein." Zwingen kann man ihn und die anderen, die Platte machen, nicht. Da sind sich die Münchner Polizei und das Kreisverwaltungsreferat (KVR) einig.
Niko zündet seine Kerzen an. Er will auch Heiligabend und am liebsten auch Silvester unter dem Sendlinger Tor verbringen. Die Nächte in der leer gefegten Stadt gehören nun ihm und den anderen obdachlosen Männern und Frauen.
Frater Emmanuel Rotter sagt: "Sie werden sich die schönsten Plätze aussuchen." Wenigstens das.