Ballett-Leidenschaft eines Bubs: Nikitas größter Wunsch

Der Zwölfjährige hat ein großes Talent: Er trainiert hart, um Profi-Balletttänzer zu werden. Damit seine Mutter den Unterricht bezahlen kann, müssen sie sogar am Essen sparen.  
von  Sophie Anfang
"Später möchte ich als Solist tanzen – das ist mein großer Wunsch": Nikita träumt von einer Karriere als Tänzer. Dafür trainiert er fleißig. Für seine Mutter Natalia sind die Tanzstunden jedoch finanziell nur schwer zu stemmen.
"Später möchte ich als Solist tanzen – das ist mein großer Wunsch": Nikita träumt von einer Karriere als Tänzer. Dafür trainiert er fleißig. Für seine Mutter Natalia sind die Tanzstunden jedoch finanziell nur schwer zu stemmen. © AZ/ Sigi Müller

Der Zwölfjährige hat ein großes Talent: Er trainiert hart, um Profi-Balletttänzer zu werden. Damit seine Mutter den Unterricht bezahlen kann, müssen sie sogar am Essen sparen.

Den Blick starr nach vorne, jeder Muskel angespannt: Wenn er tanzt, ist Nikita höchst konzentriert. Richtig erwachsen sieht er dann plötzlich aus, viel älter als zwölf. Nikita tanzt Ballett, sein halbes Leben lang schon – mit Leidenschaft und viel Talent. Seine Mutter Natalia unterstützt seinen Traum, wo sie kann. Auch wenn sie sich selbst dafür zurücknehmen muss.

Vor über zehn Jahren, 1999, kam Natalia Voronina nach Deutschland. Die damals 25-Jährige hatte in St. Petersburg BWL studiert und schon mehrere Jahre erfolgreich in einem Unternehmen gearbeitet. Warum sie damals entschied, nach München zu ziehen? „Eigentlich wegen meinem Mann“, sagt sie schlicht. Dessen Familie lebte in der Bundesrepublik und wollten ihren Sohn näher bei sich haben. Zudem war Natalia gerade schwanger geworden und über die Krankenhäuser in Russland erzählte man sich fürchterliche Geschichten: „Man sagte, die Frauen würden bei der Geburt ganz alleine gelassen. Ich hatte schreckliche Angst!“

Also wieso nicht Deutschland, ein neuer Anfang? „Ich war davor noch nie im Ausland gewesen“, erinnert sich Natalia, „Angst hatte ich trotzdem nicht.“ Wieso sollte sie auch? In der Schule hatte sie immer die besten Noten gehabt. Musikalisch begabt war sie außerdem, besuchte die Musikschule und später erfolgreich die Universität. „Als wir damals mit der S-Bahn in die Stadt gefahren sind, hat mir das alles hier unglaublich gut gefallen. So viel Grün, so viel Natur: Das hat mein Herz berührt.“

Es konnte also nur besser werden in der neuen Heimat, glaubte die junge Russin. Passiert ist das Gegenteil. Kaum war Nikita geboren, ging die Ehe mit dessen Vater in die Brüche. Der Kontakt ist fast vollständig abgebrochen, und auch die Unterhaltszahlungen bleibt der verschollene Ex-Mann schuldig. Was blieb, waren die staatlichen Transferleistungen.

Aber Natalia wollte sich nicht unterkriegen lassen, wollte wieder selbstständig sein und in ihrem Beruf arbeiten. Als Nikita zwei war, machte sie einen Deutschkurs, versuchte, sich so schnell wie möglich an die neue Heimat anzupassen. Doch damit war sie noch lange nicht am Ziel. Ihr BWL-Diplom wurde hierzulande nicht anerkannt. Auch ein Aufbaustudium an der Ludwig-Maximilians-Universität wurde ihr verwehrt. Das Studium gänzlich neu zu beginnen, mit einem kleinen Kind, das ging nicht.

Teufelskreis aus Bewerbungsbemühungen und Fortbildungen

Natalia versuchte es auf einem anderen Weg: Über einen Kurs des Arbeitsamts wollte sie sich zur Kauffrau weiterbilden lassen, doch schon wenige Tage später sagte man ihr, sie müsse ihn wieder verlassen. „Ich sprach zu gut Deutsch. Dieser Kurs war für Frauen gedacht, die die Sprache nicht beherrschten, deshalb sollte ich wechseln.“ Also stattdessen ein Touristikkurs. „Aber ohne IHK-Zeugnis“, sagt die Alleinerziehende – also ohne echte Qualifikation.

Ein Teufelskreis aus Bewerbungsbemühungen und Fortbildungen hatte begonnen. Eine endlose Spirale, aus der die Frau nicht rauskommt, so sehr sie auch strampelt. Aufgeben? Zurück nach St.Petersburg gehen? Das kam für sie dennoch nie in Frage: „Ich würde schon zurückgehen, aber es geht nicht mehr nur um mich. Für meinen Sohn ist die Heimat hier.“ Er ist in München geboren, seine Freunde, sein Gymnasium, alles ist hier. Und vor allem: seine Ballettschule, der Mittelpunkt seines Lebens.

Wenn man Nikita fragt, was tanzen für ihn bedeutet, blickt er einen ungläubig an: „Wie, was es mir bedeutet? Tanzen ist mein Leben!“ Punkt. So einfach kann man Dinge manchmal ausdrücken. Angefangen hatte alles mit drei, vier Jahren. „Ich habe ihn immer beobachtet, wie er zu Musik Choreografien einstudiert hat“ erzählt seine Mutter, „aber Tanzstunden waren unglaublich teuer.“ Über eine Bekannte erfuhren sie zufällig von der Bayerischen Ballettakademie.

Hohe Schulgebühren an der Ballett-Akademie

An die Eignungsprüfung können sich beide gut erinnern: „Alle Kinder haben Nummern bekommen und mussten die Bewegungen der Lehrer nachahmen“, sagt die 38-Jährige. „Eine Übung war Spagat“, erzählt Nikita lachend, „aber die Übung hab’ ich erst nach fünf Jahren Training geschafft.“ Auch ohne Spagat: Nikita wurde aufgenommen. „Unglaublich, wie so ein kleiner Zufall mein ganzes Leben verändert hat“, sagt der Zwölfjährige und klingt dabei wie ein Erwachsener – das passiert öfter, wenn er über seine Leidenschaft spricht.

Er trainiert sechs Tage die Woche, mehrere Stunden am Tag. Mathe, Latein und Bio am Vormittag im Gymnasium, am Nachmittag Ballett. „Die Hausaufgaben mache ich dazwischen.“ Ein straffer Zeitplan für ein Kind. Und eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung für die Mutter. In den ersten Jahren war die Ballettschule noch kostenlos. Doch nun muss die Familie jährlich 600 Euro für die Schulgebühren beiseite legen.

Wie sie das schafft? Natalia nimmt die Frage gelassen: „Dann essen wir eben einmal weniger, oder ich mache etwas Schulden.“ Wenn sie das sagt, klingt es ganz selbstverständlich. Und doch zeugt es von unglaublicher Disziplin, die diese Mutter aufbringt, um ihren Sohn zu fördern. Einen Sohn mit einem besonderen Talent und großem Ehrgeiz: „Man kann immer rausfliegen“, sagt Nikita. Aber er will es schaffen, unbedingt: „Später will ich in München, Moskau oder New York tanzen – als Solist, das ist mein größter Wunsch“, sagt er selbstbewusst.

Wie "Billy Elliot" - nur in München

Wenn man sieht, mit was für einer Grazie und Anmut der Bub seine Übungen vorführt, glaubt man gerne, dass man ihn später wirklich auf einer großen Bühne wiedersehen wird. Nikitas feste Überzeugung, sein Talent, die finanziell prekäre Situation seiner Mama – das alles erinnert stark an den Film „Billy Elliot“, der vor einigen Jahren Erfolge feierte. Ein Film mit einem Happy End – das man auch Nikita wünscht. Doch bis dahin müssen er und seine Mutter noch einige Hürden überwinden.

Trotz der Bewerbungen, die Natalia verschickt, bislang hat es mit einer festen Stelle nicht geklappt. „Was kann man als Alleinerziehende bloß machen, um vom Staat loszukommen?“, fragt Natalia resigniert, „wenn ein Mensch Potenzial hat, dann wird das einfach nicht erkannt.“ Luxus sucht man vergebens in der Wohnung. Was man findet, ist Bescheidenheit. Der Staubsauger funktioniert nicht mehr. Nikita erzählt, dass der Computer auch gerade kaputt gegangen ist. Das Geld für diese Anschaffungen würde später für die Ballettschule fehlen. „Ist es ok, sich so was zu wünschen? Das ist doch so teuer“, fragt der Bub deshalb fast verschüchtert. Natürlich ist es in Ordnung.


Die mühsame Anerkennung von Qualifikationen

Der türkische Arzt, der Taxi fährt, die kroatische Lehrerin, die putzt – klingt nach Klischee, ist in Deutschland aber Realität. Nur 16 Prozent der Zugewanderten mit ausländischen Abschlüssen arbeiten hierzulande in ihrem Beruf, schätzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Schuld sind unübersichtliche Zuständigkeiten und uneinheitliche Anerkennungsverfahren. Viele Zuwanderer kämpfen Jahre für die Anerkennung ihrer Qualifikation. Ein neues Gesetz soll das Verfahren nun vereinfachen.

 

 

 

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