AZ-Serie: Islam in München - Tee trinken!

Wo München am türkischsten und die Moschee im Rückgebäude ist:Die AZ sieht sich im Bahnhofsviertel um. Sie nimmt sich Zeit dafür. Anders geht’s auch nicht.
MÜNCHEN Der Weg ins Allerheiligste führt über den Hinterhof. Landwehrstraße, Rückgebäude, zweiter Stock. Hier ist die Moschee. So feierlich nennen die Männer den einfachen Gebetsraum des Vereins Milli Görüs, wo sie mehrere Male in der Woche zusammenkommen. Ihr Glaube hat auch in einem kleinen Haus Platz.
Es ist kurz vor 13 Uhr, in ein paar Minuten betet hier das Volk Abrahams. So will Abdul Samet Temel, der Vorsitzende der Organisation, den Namen übersetzt wissen. Wörtlich heißt es eher: nationale Sicht.
Abdul Samet Temel fixiert sein Gegenüber mit einem freundlichen, aber prüfenden Blick. An zu viel Ärger erinnert er sich, an falsch wiedergegebene Zitate, an Hausdurchsuchungen, weil jemand behauptete, ein unbekannter Imam habe hier beim Gebet dazu aufgerufen, Christen, Juden und türkische Parlamentarier zu töten.
Er sagt: „Islam heißt wörtlich Frieden. Es ist absurd, gläubige Muslime als gewaltbereit oder Terroristen abzustempeln.“
Aussagen von Sarrazin und Seehofer treffen einen wie Temel mitten ins Herz. „Es ist ungerecht, was sie sagen. Die Türken sind seit 50 Jahren ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft und waren am Wirtschaftsaufschwung beteiligt.“ Über 40000 leben in München. Nirgendwo rücken sie so zusammen wie hier, nahe dem Hauptbahnhof, zwischen Landwehr-, Schwanthaler- und Goethestraße.
Auf dem Gehsteig stehen Männer in kleinen Gruppen zusammen, rauchen, reden. Beim Gemüsehändler greifen die Käufer selbst in die Kisten. Anfassen ist hier erlaubt. Der Chef des kleinen Imbiss-Restaurants grüßt freundlich, wenn jemand den Laden betritt, mit einer Hand wischt er den Tisch ab, mit der anderen bietet er gleich einen Platz an.
Die Menschen hier suchen direkten Blickkontakt, freundlich ist das, gastfreundlich. Sie entschuldigen sich, wenn sie meinen, im Weg zu stehen, sie lachen viel. Man kommt bald ins Gespräch. Wer mehr erfahren will, muss ein bisschen Geduld mitbringen. Ein paar Stunden im türkischsten Viertel Münchens sind gelebte Entschleunigung. Hier ist zu erleben, warum abwarten und Tee trinken im Volksmund zusammen gehören.
Goldschmied Enver Sen zum Beispiel. Der 50-Jährige steht hinter dem Verkaufstresen in seinem kleinen Laden. Er ist nicht größer als zwei ausgestreckte Arme, beherbergt aber tausende Schmuckstücke. Sen macht das, was er an diesem Tag noch öfter tun wird. Er trinkt mit einem türkischen Bekannten eine Tasse Cay.
Der Goldschmied hat viele deutsche Freunde, so wie andere im Viertel auch. Er fühlt sich als Teil dieser Gesellschaft. Da ist die 27 Jahre alte Verkäuferin Esma, die vor zehn Jahren nach München gekommen ist und sich nicht mehr vorstellen könnte, je in der Türkei zu leben. Da ist ihre Cousine Selin (23), die im Supermarkt ihres Vaters an der Kasse sitzt und spielerisch zwischen Deutsch und Türkisch wechselt. Ihre Augen betont sie mit einem perfekt gezogenen Kajalstrich, an der Wand hängt ihre stylische Handtasche. Eine moderne Frau. Ab 35 will sie Kopftuch tragen, „Da hat meine Mutter auch damit angefangen, aber jetzt will ich das noch nicht.“
Draußen auf der Goethestraße stehen die Autos. Diverse Dreier-BMW sind darunter. Aus den Lautsprechern dröhnt laute, fremdländische Musik. Passt ja herrlich ins Klischee. Türken eben? Die zwei Männer in einem der Wagen lachen sich schlapp. „Wir? Türken? Wir sind Griechen“.
Verena Duregger