Aus nach Vierteljahrhundert: Zu Besuch bei einer Münchner Kultwirtin

24 Jahre lang betreibt Charlotte Gornik die Kneipe Ungewitter. Dann verändert ein Unfall ihr Leben von heute auf morgen. Früher fährt sie jedes Jahr ein neues Auto. Heute ist die 81-Jährige auf Hilfe angewiesen.
Sophia Willibald
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Charlotte Gornik (81) steht vor ihrer früheren Kneipe Ungewitter in der Maxvorstadt. Nach einem schweren Unfall musste sie die Bar aufgeben. Heute geht sie nur noch selten dort hin - zu viele schmerzhafte Erinnerungen hängen für sie an diesem Ort, sagt sie.
Charlotte Gornik (81) steht vor ihrer früheren Kneipe Ungewitter in der Maxvorstadt. Nach einem schweren Unfall musste sie die Bar aufgeben. Heute geht sie nur noch selten dort hin - zu viele schmerzhafte Erinnerungen hängen für sie an diesem Ort, sagt sie. © Ben Sagmeister

Wenn Bozena Gornik, alias Charlotte, aus ihrem Leben erzählt, kann man kaum begreifen, dass ein Mensch so viel erleben kann – Gutes wie Schlechtes.

Die gebürtige Polin erfährt bereits in jungen Jahren Schicksalsschläge. Mit 13 Jahren kommt sie nach Deutschland, als Vollwaisin, erzählt sie. Bozena Charlotte Bernadette verliebt sich, bekommt zwei Kinder und heiratet dreimal. Nebenbei betreibt sie mehrere Bars und reist als Discjockey quer durch Europa. In München kennt man sie vor allem unter ihrem zweiten Vornamen – Charlotte: "Das klingt hier einfach besser", sagt sie.

Schicksalsschlag nach 25 Jahren hinter dem Tresen des Ungewitter: Zu Besuch bei Kult-Wirtin Charlotte (81)

Zuletzt führt sie mit viel Herzblut die Bar Ungewitter in der Maxvorstadt, Arcisstraße 62. Doch vor fünf Jahren verletzt sich die Wirtin während einer Schicht schwer. Sie kommt ins Krankenhaus; Operationen und Reha folgen. Es ist klar: Nach fast 25 Jahren Ungewitter mit Charlotte ist hier Schluss.

In jungen Jahren als Discjockey mit einem Mikrofon in der Hand.
In jungen Jahren als Discjockey mit einem Mikrofon in der Hand. © Ben Sagmeister

Charlotte Gornik zieht die Tür ihrer Wohnung auf: "Na, kommt rein." Es fällt sofort auf: Die 81-Jährige legt großen Wert auf ihr Erscheinungsbild. In ihren blonden Haaren stecken bunte Plastikblumen, die an eine Hawaiikette erinnern. Ihre Brille ist mit funkelnden Strasssteinen besetzt. Dazu trägt sie ein flatterndes Oberteil, mit Schmetterlingsdruck.

Vom Tresen zur Tafel: Heute ist Charlotte auf Unterstützung angewiesen

Später möchte sie noch einmal los – zur Tafel. "Ich habe eine ganz kleine Rente. Ich bekomme 400 Euro und ein paar Zerquetschte", sagt sie.

Vorsichtig tastet sie sich in ihrer Wohnung vor, hält sich dabei an den Armaturen in der Küche fest. Jeder Schritt fällt ihr schwer, Schmerzen plagen sie. Doch wenn die Münchnerin klagt, dann nur kurz: "Na, jetzt habe ich mich genug beschwert", sagt sie und lacht. Dann beginnt sie von vergangenen Zeiten zu schwärmen: "Mensch, war das schön."

25 Jahre lang Kult-Wirtin: Charlotte Gornik (81).
25 Jahre lang Kult-Wirtin: Charlotte Gornik (81). © Ben Sagmeister

Charlotte Gornik greift nach einem Stapel alter Fotos. "Ich war ja mal Discjockey. Der erste weibliche Discjockey in der Bundesrepublik." Stolz hält sie eine Karte hoch. Auf der Vorderseite eine alte, schon etwas verblasste Aufnahme von ihr. Auf der Rückseite, unter einem Kaffeefleck, klebt ihr damaliger Lebenslauf als DJ – angefangen 1960/61 im Club Madame in Aachen.

Charlotte Gornik hat viel von damals aufgehoben: Fotos, Briefe, Autogramme. Darunter auch ein Zeitungsartikel über das Ungewitter von 1996.
Charlotte Gornik hat viel von damals aufgehoben: Fotos, Briefe, Autogramme. Darunter auch ein Zeitungsartikel über das Ungewitter von 1996. © Ben Sagmeister

Von dort aus führte sie ihre DJ-Karriere bis ins Ausland, erzählt sie: "Ich war in ganz Frankreich und Holland unterwegs und … Moment, bei den Griechen war ich doch auch, oder? Ja, genau, bei den Griechen war ich auch. Und der Türke, der hat am besten gezahlt. Tolle Zeiten waren das."

Aus dem Allgäu nach München: Mitte der Neunziger eröffnet sie das Ungewitter

Ihr Unternehmergeist zeigt sich schon vor vielen Jahren, als sie noch im Allgäu lebt: "In Oberstdorf hatte ich vier Kneipen und eine Diskothek", erzählt die 81-Jährige. Nach dem Tod ihres ersten Mannes zieht die zweifache Mutter nach München.

Mitte der 90er Jahre eröffnet sie dort die Bar Ungewitter. Sie erinnert sich: "Am Anfang hatte ich wirklich Schwierigkeiten mit den männlichen Gästen in München. Die waren frech und meinten, eine Frau hätte nichts zu sagen." Doch Charlotte Gornik ist kein Mensch, der aufgibt, damals wie heute nicht.

Zwischen den alten Fotos zieht die 81-Jährige einen vergilbten Zeitungsartikel von 1996 hervor. Dort heißt es: "In der Arcisstraße 62 hat am 10.10.96 der Blitz eingeschlagen. Mit Holsten-Pils wurde gelöscht. Hier eröffnete nämlich die hübsche und charmante Bilderbuch-Wirtin Charlotte ihre schnucklige Gaststube als 'verlängertes Wohnzimmer' für Menschen, die Geselligkeit lieben. Schon nach so kurzer Zeit wird das kleine Lokal mit dem Namen 'Ungewitter' in der Szene als Geheimtipp gehandelt."

"Vorher wollte ich gar nicht gehen": Kult-Wirtin Charlotte Gornik zu ihrer Zeit im Ungewitter

Bei dieser Beschreibung hat man Charlotte Gornik förmlich vor Augen: Wie sie durch die Kneipe wirbelt, ihren Gästen jeden Wunsch von den Lippen abliest – und wie der volle Raum in schallendes Gelächter ausbricht, wenn die Münchnerin mit ihren kecken Sprüchen um sich wirft.

Während die Wirtin vom Ungewitter erzählt, bleibt kein Zweifel: Sie hat ihren Beruf geliebt und gelebt. "Ich bin um 6 Uhr abends ins Lokal gekommen und wann bin ich nach Hause? Um 6 Uhr morgens. Vorher wollte ich gar nicht gehen."

Vor fünf Jahren änderte sich Charlotte Gorniks Leben schlagartig: "Ich hatte den Unfall, zu der Zeit, als Corona kam." Gerade wollte sie Flammkuchen servieren, die sie in ihrer Kneipe anbot, als sie auf der Treppe stürzt. "Dabei habe ich mir beide Knie verletzt – und auch das ganze Gesicht. Augen, Nase, Zähne – alles war kaputt." Die 81-Jährige lässt die Hände auf den Tisch sinken. Danach sei es vorbei gewesen mit ihrem Wirtinnen-Dasein.

Rückkehr für einen Moment: Mit der AZ geht Charlotte noch einmal zum Ungewitter

Ein ehemaliger Gast von Charlotte Ungewitter, Hai-Duong Nguyen, übernahm die Kultkneipe. Schon seit 2015 betreibt er nicht weit weg die Schwabinger Bar Pilsdoktor. Abgeklärt fügt sie hinzu: "Eine Wirtin mit zwei gebrochenen Knien kann schlecht die Leute bedienen." Heute will sie mit der AZ zu ihrer alten Kneipe zurückkehren – wenn auch nur für einen Moment.

Charlotte Gornik schiebt ihren Rollator aus der Haustür ihres Wohnhauses. Im Korb ihres "Rolls-Royce", wie sie das Wagerl mit einem Augenzwinkern nennt, liegen ihr Handy, ihr Geldbeutel und der Berechtigungsschein für die Tafel.

Unterwegs beginnt sie von ihrem Sohn zu erzählen. Ein schwarzer Mini, der am Straßenrand parkt, weckt Erinnerungen. "Er ist schon im Himmel", sagt die zweifache Mutter mit bedrückter Stimme. Vor ein paar Jahren ist er gestorben.

"Hätte niemals geglaubt, dass ich so tief sinke"

"Damals ging es mir noch gut. Mein Sohn hat bei einem Autohersteller gearbeitet und mir jedes Jahr einen neuen Mini geschenkt. Er hat immer gefragt: ,Mama, welche Farbe willst du?’ Ich hatte sie alle – nur nie Schwarz." Dann meint die 81-Jährige noch: "Ich hätte niemals geglaubt, dass ich so tief sinke."

Mit ihrer Situation ist Charlotte Gornik nicht allein. Das weiß auch Katrin Wagner. Die 47-Jährige ist die rechtliche Berufsbetreuerin von Charlotte Gornik. "Früher nannte man das Vormund", erklärt sie.

Die Wirtschaftsjuristin unterstützt Menschen bei Rechtsgeschäften, die entweder psychisch oder körperlich beeinträchtigt sind. "Aktuell betreue ich 40 Personen", sagt sie. Kaum einer ihrer Klienten sei wirklich vermögend. Sie schätzt, dass 90 Prozent finanzielle Hilfe vom Amt benötigen.

Katrin Wagner vertritt auch viele Frauen: "Früher war es oft noch nicht notwendig, dass Frauen arbeiten gehen, weil das Gehalt des Partners reichte. Sie blieben zu Hause bei den Kindern und zahlten somit auch nichts in die Rentenkasse ein."

Wirtschaftsjuristin: "Einfach goldig und liebenswert"

Bei Charlotte Gornik sei die Lage etwas anders, erklärt sie: "Für sie ist es natürlich frustrierend, weil sie so lange gearbeitet hat – und dann kam der Unfall." Die Wirtin habe wohl nie daran gedacht, Geld zurückzulegen. "Das ist eine andere Generation", sagt die Wirtschaftsjuristin. "Wahrscheinlich hat sie geglaubt, dass sie arbeitet, bis sie tot umfällt."

Katrin Wagner hat die Ex-Wirtin ins Herz geschlossen: "Es gibt Betreute, die mag man mehr und manche weniger und sie ist definitiv eine von den ganz zuckersüßen. Sie ist einfach goldig und liebenswert. Jedes Mal, wenn ich komme, malt sie mir ein Bild, auf dem ,Herzlich willkommen’ steht und hängt es auf." Das sei nicht selbstverständlich: "Ich werde von manchen Betreuten auch angeschrien oder ignoriert. Also sie ist wirklich ein Herzchen."

Am Eingang des Alten Nordfriedhofs gibt die Tafel Lebensmittel für Bedürftige aus. Charlotte Gornik kommt regelmäßig dorthin.
Am Eingang des Alten Nordfriedhofs gibt die Tafel Lebensmittel für Bedürftige aus. Charlotte Gornik kommt regelmäßig dorthin. © Ben Sagmeister

Gerade weil die 81-Jährige als jahrelange Wirtin so gesellig sei, habe Katrin Wagner sie bei einem Seniorentreff angemeldet. Zudem bekomme sie dort vergünstigte Mahlzeiten.

"Da fange ich immer an zu heulen": Mit Kult-Wirtin Charlotte (81) zu Besuch am Ungewitter

Charlotte Gornik sagt dazu selbst: "Ich gehe dreimal in der Woche dorthin. Essen kostet einen Euro und Trinken auch einen Euro. Ich bin sparsam geworden." Dennoch gönnt sie sich kleine Freuden, wenn das Geld es zulässt. Heute ist so ein Tag. "Später hole ich mir noch ein Eis. Ich habe Geld, vorgestern war der Erste", sagt sie und lacht herzlich.

Beim Ungewitter angekommen, blickt die Ex-Wirtin wehmütig an der Fassade hoch. Die Bar hat um diese Uhrzeit noch geschlossen. Doch Charlotte Gornik wäre wohl ohnehin nicht hineingegangen. "Ich gehe heute nur noch ungern ins Ungewitter – da fange ich immer an zu heulen", gesteht die 81-Jährige. Zu viele Erinnerungen hängen an diesem Ort.

Die Ex-Wirtin macht mit ihrem Rollator kehrt. Nur wenige Meter entfernt, am Alten Nordfriedhof, wird heute Essen ausgegeben. Zum Abschied bleibt sie einen Moment stehen und winkt. Wäre sie nicht gestürzt, stünde sie vermutlich noch immer bis in die frühen Morgenstunden hinter dem Tresen des Ungewitters.

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