Arzt Friedrich Stapf aus München: Über 120.000 Abtreibungen in 50 Jahren

Friedrich Stapf macht seit Jahrzehnten nichts anderes als Abbrüche von Schwangerschaften durchzuführen. Er ist 77 Jahre alt und findet keinen Nachfolger. Die AZ hat ihn einen Tag in seiner Praxis in München begleitet.
von  Christina Hertel
Friedrich Stapf in seiner Praxis. Er ist kein gewöhnlicher Arzt und sieht auch nicht so aus. Beim AZ-Fototermin, wie auch beim Besuch der AZ-Reporterin ein paar Tage zuvor, trägt erHawaiihemd.
Friedrich Stapf in seiner Praxis. Er ist kein gewöhnlicher Arzt und sieht auch nicht so aus. Beim AZ-Fototermin, wie auch beim Besuch der AZ-Reporterin ein paar Tage zuvor, trägt erHawaiihemd. © Sigi Müller

München - Es ist kurz nach 8 Uhr morgens und Friedrich Stapf muss sich, bevor sein Arbeitstag so richtig losgeht, noch einmal umziehen. Da ist ein kleiner Blutfleck auf seiner weißen Hose. Und er findet, das gehört sich nicht.

Friedrich Stapf ist 77 Jahre alt und er leitet eine Praxis im Münchner Westen, in der er nichts anderes tut, als Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Jeden Tag beendet er etwa 13 Schwangerschaften. Er kommt auf rund 120.000 Abtreibungen in seiner Karriere, die 1967 in seiner Studentenbude begann.

Münchner Abtreibungsarzt: "Ich kann nicht aufhören"

Stapf ist kein typischer Arzt und er sieht auch nicht wie einer aus. Er trägt ein Hawaiihemd mit Palmen, als würde er in den 80ern am Strand Cocktails schlürfen. Seine Füße stecken in grünen Clogs.

Er wird sich den Tag über immer wieder in seinem Büro (mehr eine Abstellkammer mit Computer, weil da so viele Kartons stehen) eine Zigarette anzünden, sie weglegen, bevor er sie fertig geraucht hat und später wieder anstecken.

Vor Kurzem lagen Glückwünsche der Ärztekammer in seinem Briefkasten, erzählt er. 50 Jahre ist seine Approbation inzwischen her. "Als wollten sie mir sagen, dass ich endlich aufhören soll”, sagt er. Warum tut er's nicht? "Ich kann nicht."

In München gibt es laut Gesundheitsreferat 37 Ärzte, die eine Erlaubnis haben, den Eingriff vorzunehmen, 34 davon sind über 60 Jahre alt. Diese 37 Ärzte findet man nur mit Glück. Auf der offiziellen Liste der Bundesärztekammer stehen nur vier mit Telefonnummer.

Nach über 120.000 Abtreibungen: "Schauspieler sterben auch gern auf der Bühne"

Die von Stapf findet man leicht. Er führt  – nach eigenen Angaben – ein Drittel aller Abbrüche in ganz Bayern durch. An diesem Tag kommen nicht nur Frauen aus München und Umland, sondern auch aus Augsburg und Passau.

Wie lange will er noch weiter machen? "Schauspieler sterben doch auch gern auf der Bühne”, antwortet Stapf darauf.

Er hat die AZ eingeladen, sich seine Arbeit einen Tag lang anzusehen – bei den Gesprächen dabei zu sein und auch im OP. Wir sehen drei Frauen weinen und eine zweifeln. Viele haben Angst. Alle müssen irgendwann bei ihrem Besuch in Stapfs Praxis schmunzeln, manche sogar lachen.

Denn Stapf ist wie der liebe Onkel, der bei jeder Geburtstagsfeier den gleichen Witz erzählt: "Was machen Sie daheim, wenn's zieht?" Schmerztablette? Wärmflasche? Tee? Alles falsch. "Sie machen das Fenster zu."

Die Frauen sehen, dass sie nach der Abtreibung nicht alleine sind

Manche Frauen kennen die Antworten schon. Denn in dem Raum, in dem sie vor der OP warten und hinterher wieder aufwachen, stehen die Liegen ohne Trennwände nebeneinander.

Die Frauen sollen sehen, dass sie nicht alleine sind – so begründet Stapf das. Das sind sie auch außerhalb seiner Praxis nicht: 104.000 Abbrüche haben Ärzte in Deutschland 2022 durchgeführt.

Abtreibung in Deutschland: Noch immer ein Tabu

In den USA treibt jede vierte Frau einmal in ihrem Leben ab, in Deutschland sind es nur etwas weniger. Trotzdem ist eine Abtreibung noch immer ein Tabu – und sogar Teil des Strafgesetzbuches. Der Paragraf 218 verbietet den Abbruch grundsätzlich.

Doch der Eingriff bleibt straffrei, wenn er innerhalb von drei Monaten erfolgt und die Frau eine Beratung aufgesucht hat. Ende Februar hat die Bundesregierung eine Expertenkommission aus Ethikern, Medizinern und Juristen einberufen, die sich überlegen soll, wie Deutschland Schwangerschaftsabbrüche regeln soll.

Abtreibungsarzt Stapf: Eine Berufung aus Überzeugung

Dass der Eingriff keine Straftat ist, ist für Stapf schon lange klar. Bei einem Praktikum am Ende seines Studiums erlebte er, wie es Frauen geht, die illegal einen Abbruch vornehmen, zum Beispiel, indem sie sich Seifenlauge spritzen. Stapf behandelte sie damals im Wiesbadener Krankenhaus. 60 Frauen hatten schwerste Komplikationen, sieben Frauen habe er sterben sehen – und das in nur zehn Monaten Praktikum.

Anfang der 70er war das. Seitdem hat sich vieles verändert. Dafür hat Stapf vor Gericht gekämpft. Dass die Kommission etwas verbessern kann, daran hat er Zweifel - schließlich sei nicht einmal ein Arzt, der Abtreibungen durchführt, Teil davon. Wie sein Alltag aussieht - das wüssten sie gar nicht.

Die jüngste Patientin war bei Schwangerschaftsabruch erst 15

Vor jeder OP führt Stapf mit den Frauen ein Gespräch in einem Arztzimmer. Er erklärt ihnen, dass sie drei Tage das Haus nicht verlassen, sieben Tage Fieber messen und ihn anrufen sollen, wenn die Temperatur zu hoch ist – egal wann.

Die älteste Frau, die an diesem Tag in seiner Praxis sitzt, ist Ende 30, sie hat schon ein Kind, ihr Mann wollte kein zweites. Sie hat den Termin für die Abtreibung zuvor zweimal abgesagt. Die jüngste Frau, die an diesem Tag ihre Schwangerschaft beendet, wurde vor zwei Tagen 15. Sie fragt, ob ihr Vater mit in den OP darf.

Drei von zehn Frauen treiben innerhalb eines halben Jahres erneut ab

Zu allen Frauen sagt Stapf am Ende dieses Gesprächs: "Und jetzt überschlagen Sie die Beine." Alle tun es. "Und genau so bleiben Sie bis zu Ihrer nächsten Periode sitzen. Wissen Sie, warum?" Alle schütteln den Kopf. "Weil Sie so nicht schwanger werden können.”

Drei von zehn Frauen würden innerhalb eines halben Jahres wieder bei ihm in der Praxis sitzen. Theoretisch können Frauen gleich nach dem Eingriff schwanger werden. Doch eine Spirale einsetzen oder die Pille nehmen sollten sie erst bei ihrer nächsten Periode.

"Und wann die kommt”, sagt Stapf, "weiß keiner.” Und dann noch so ein Spruch, den Stapf zu allen Frauen sagt: "Warum sind Kondome keine zuverlässige Verhütung? Weil nichts, was Männer machen, zuverlässig ist."

Schwangerschaftsabbrüche werden mit selbstgebauter Anlage vorgenommen

Im OP wünscht der Anästhesist gute Träume, die OP-Schwester hält die Atem-Maske und Stapf beginnt mit seinem Eingriff. Er tupft die Scheide aus, er weitet den Muttermund, dann saugt er mit einem Röhrchen das Gewebe ab. Es klingt, als würde man mit einem Strohhalm Wasser einsaugen, nur viel lauter. Zehn bis 200 Milliliter rötliche Flüssigkeit, ein Gemisch aus Blut und Fruchtwasser, sammelt sich in einem Behälter.

Er kippt den Inhalt in ein Sieb im Waschbecken, da liegt kein totes Baby im Ausguss, sondern hellrosa Gewebe – zumindest wenn der Abbruch früh erfolgt. Die Anlage hat er selbst gebaut. Je nachdem, wie viel er absaugen muss, sind unterschiedlich dicke Schläuche notwendig. Die passenden Aufsätze gebe es nicht zu kaufen, sagt Stapf.

Nach der OP: Lässige Atmosphäre und Kekse zum Aufwachen

Inzwischen ist es kurz vor 11 Uhr. Die 15-Jährige wacht gerade nach ihrer OP auf. So wie neben allen Betten stehen da ein Glas Cola und ein Teller voller Kekse und Salzbrezeln. Sie lässt nur zwei Kekse übrig. "Es ist toll hier. Darf ich Sie mal umarmen?", fragt sie die Schwester. Ja, darf sie. Und dann erzählt sie, wie sehr sie sich auf ihren nächsten Urlaub mit ihren Eltern am Meer freut, wie ihr ihr Freund Gras verkaufte.

Wie glücklich sie ist, dass sie endlich ein eigenes Pferd hat und wie sie wochenlang betrunken in die Schule kam, weil sie so viel Schnaps trank. Stapf muss noch einen Ultraschall bei ihr machen, auf dem Weg in den anderen Raum hakt sie sich bei ihm unter.

Stapf macht keine Mittagspause, er trinkt nur eine Schokoladen-Milch in seinem Büro. Dort zeigt er einen Stapel Karten, lauter Baby-Fotos. Schon einen Tag vor der Abtreibung müssen Frauen zu Hause eine Pille nehmen, die eine Fehlgeburt einleitet, damit 24 Stunden später die Operation einfacher geht.

Zehn von 100 Frauen entscheiden sich kurzfristig gegen die Abtreibung

Zehn von 100 Frauen schicken die Pille zurück und bekommen doch das Kind, sagt Stapf. Einmal habe ihn eine Frau ganz empört gefragt, ob sie wohl ihr Kind umbringen solle. "Soll ich es tun? Hab ich zurück gefragt. Da ist sie lachend aufgestanden und gegangen."

Am Nachmittag führt Stapf die, wie er es ausdrückt, Vor-Vor-Gespräche. Da macht er die Termine aus, übergibt die Tablette, die den Abbruch einleitet, und er fragt auch, ob sich die Frauen sicher sind. Nur eine beginnt zu weinen. "Ich fühle mich wie ein schlechter Mensch", sagt sie. "Da müsste es aber sehr viele schlechte Menschen geben”, antwortet Stapf.

Sie erzählt, dass ihre Familie aus der Türkei stammt, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat, dass ihre Eltern eine Abtreibung wohl noch schlimmer fänden als ein Baby ohne Ehemann und dass sie ihnen deshalb auch nicht erzählt hat, dass sie hier ist. "Sie können es sich immer noch einmal anders überlegen”, sagt Stapf. Zumindest, bis sie die Pille genommen hat, dann gibt es kein Zurück.

Eigentlich macht Stapf seine Praxis offiziell um 16 Uhr zu. Um etwa 17.30 Uhr verlässt an diesem Tag die letzte Patientin seine Praxis. Er zündet sich noch mal eine Zigarette an. Kurz runter kommen, bevor er nach Hause fährt – und bevor morgen alles wieder von vorn beginnt.


Hintergrund:

Für die Münchner Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt von den Grünen ist klar, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht Teil des Strafgesetzbuches sein dürfen. Die 29-Jährige sitzt für die Grünen im Gesundheitsausschuss und ist dort vor allem für den Bereich Frauengesundheit zuständig. Sie ist davon überzeugt, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eine wohnortnahe Versorgung verhindert.

Die Grünen-Abgeordnete Saskia Weishaupt.
Die Grünen-Abgeordnete Saskia Weishaupt. © Elias Keilhauer

"Besonders in Bayern müssen ungewollt Schwangere weite Strecken zurücklegen, das ist unzumutbar", sagt sie. Weishaupt fordert: "Der Schwangerschaftsabbruch muss eine Gesundheitsleistung werden. Eine Regelung außerhalb des Strafgesetzbuchs ist überfällig."

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