Altenpflege: "Was in den Heimen passiert, ist Folter"

Claus Fussek und der Gottlob Schober sprechen in der AZ über menschenunwürdige Bedingungen in der Altenpflege – und einen Skandal, der keinen interessiert, bis er selbst betroffen ist
Laura Kaufmann |
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Claus Fussek und Gottlob Schober. Die Autoren sind oft schockiert von den Briefen, Mails und Anrufen, die sie erhalten.
Gregor Feindt Claus Fussek und Gottlob Schober. Die Autoren sind oft schockiert von den Briefen, Mails und Anrufen, die sie erhalten.

AZ: Herr Fussek, Herr Schober, vor fünf Jahren haben sie schon einmal ein Buch über den Zustand der Pflege in Deutschland geschrieben: „Im Netz der Pflegemafia“. Was hat sich seitdem geändert?

GOTTLOB SCHOBER: Wir dachten eigentlich, wir hätten alles aufgedeckt. Fünf Jahre später müssen wir feststellen: Es hat sich nichts überhaupt geändert. Es kann doch nicht sein, dass sich bei diesen Missständen gar nichts tut.

CLAUS FUSSEK: Völlig zu Recht haben die Flüchtlinge am Rindermarkt so viel Aufmerksamkeit bekommen. Aber ich würde mir die gleiche Aufmerksamkeit wünschen für unsere alten Menschen, die täglich nichts zu essen und zu trinken bekommen. Die nie an die frische Luft kommen.

S: Bilder von gefesselten Alten – das weckt in den Leuten keine Empörung mehr.

F: Die Politik hat sich daran gewöhnt, die Medien auch. Für pflegebedürftige Menschen bedeutet das gesellschaftliche Desinteresse menschenunwürdige Bedingungen.

Sie vergleichen in ihrem Buch die Pflege mit Folter. Ist das nicht etwas drastisch?

F: Es ist drastisch, aber leider ist es so.

S: Wenn Sie sich die Kriterien von Folter anschauen – Fixierung, Freiheitsberaubung etwa – für uns ist das Folter, und der einzige legitime Bereich dafür sind die Pflegeheime.

F: Alle wissen Bescheid, von der Putzfrau bis zum Bestatter. Das ist eine Allianz des Schweigens. Und wie das funktionieren kann in unserer Gesellschaft, ist mir schleierhaft.

Woher beziehen Sie Ihre Informationen über diese Zustände?

F: Zwei Drittel unserer Informanten sind anonyme, verzweifelte Pflegekräfte. Es bräuchte ein Bündnis von Angehörigen, Pflegekräften, die mobil machen – eine Solidarität für die Schwachen der Gesellschaft.

F: Diese Solidarisierung mit den Hochwasser-Opfern – so etwas brauchen wir für die pflegebedürftigen Menschen.

S: Die Politik wäre nicht auf die Idee gekommen, nur 1000 Sandsäcke zu zahlen, wenn 10000 nötig gewesen wären.

Wie erklären Sie sich das, dass diese Solidarität fehlt, wenn es um pflegebedürftige Menschen geht?

F: All das wird geleugnet und bagatellisiert.

S: Politik und Gesellschaft haben resigniert, weil die Zahl der pflegebedürftigen Menschen, die auf uns zukommt, nicht mehr beherrschbar ist. Heute sind es in Deutschland 2,45 Millionen. 2050 werden es 4,23 Millionen sein.

Sie haben in den letzten 25 Jahren über 50000 Briefe, Mails und Anrufe von Betroffenen erhalten.

F: Es gibt so viel Unvorstellbares. Das glaubt man nicht, wenn man es nicht selbst gesehen hat. Die Menschen kommen tagelang nicht aus dem Bett, werden mit Psychopharmaka ruhig gestellt, dämmern nur vor sich hin. Bekommen aus Zeitmangel nichts zu essen und zu trinken. Sie kommen nicht zum Klo und müssen ihre Notdurft in Windeln verrichten.

S: Mir hat neulich eine Frau geschrieben, sie trinke nach 16 Uhr nichts mehr. Weil ihr nachts niemand aufs Klo helfen kann.

F: Es gibt Briefe von Pflegern, die sagen, sie können den alten Leuten vor Scham nicht mehr in die Augen sehen.

S: Briefe von Pflegern, die sagen, sie sehen es eigentlich auch als ihre Aufgabe, den Sterbenden die Hand zu halten. Sie haben dafür aber keine Zeit. In der Nachtschicht sind sie manchmal für mehr als 80 Menschen zuständig. Und dazu muss man auch wissen: Es gibt Heime, in denen geht das. Es kann gehen.

Wenn die Pfleger nicht überfordert sind. Was können Angehörige dagegen tun?

S: Ich war schon in Heimen, da hat nie ein Angehöriger vorbeigeschaut. Sie müssen sich kümmern. Ihre Anwesenheit erzeugt Druck.

F: Ein gutes Pflegeheim sieht kritische Angehörige als Kontrollinstanz.

S: Ich wohne 300 Kilometer von meiner Mutter entfernt. Sie hat Parkinson. Aber wenn sie einmal ins Heim muss, bin ich damit nicht aus der Verantwortung. Einen Heimvertrag abzuschließen, nimmt einen als Angehörigen nicht aus der Verantwortung.

Das klingt, als seien Pflegeheime die reinsten Foltercamps.

S: Es gibt auch Heime, da würde ich meine Mutter sofort hingeben. Es sind manchmal die kleinen Dinge. Zeit, auf die Menschen einzugehen. Es braucht keine Medikamente, es braucht Menschlichkeit.

Wie viel Prozent der Heime sind denn in Ordnung?

S: Das lässt sich so nicht sagen. Was wir beschreiben sind Einzelfälle, die aber flächendeckend vorkommen. Es kann auch in einem einzigen Heim in der Frühschicht toll sein, da finde ich dann meine Mutter gewaschen und gekämmt vor, und in der Nachtschicht schaut es ganz anders aus.

Wie steht’s um die Pflegeheime in München?

F: Wir haben hier zwar eine bestens ausgestattete Heimaufsicht, aber der Pflegemangel ist erheblich.

S: Es ist ein bundesweites Problem, München ist da keine Ausnahme.

Was tun, wenn ein Angehöriger auf Hilfe angewiesen ist?

S: Erst einmal den Familienrat zusammenrufen. Reden. Fragen, was der Angehörige sich wünscht. Es gibt übrigens auch Tagespflege oder Kurzzeitpflege – Heime, wo man den Pflegebedürftigen tageweise oder ein paar Wochen unterbringen kann, wenn man überfordert ist und eine Pause braucht.

Wie machen Sie das, Herr Fussek?

F: Meine Mutter ist auf Hilfe angewiesen und wir haben eine legale, osteuropäische Pflegerin, die uns unterstützt.

Wenn es doch nicht anders geht: Woran erkenne ich ein gutes Heim?

F: Wenn Sie eine Heimleitung fragen: Gibt es bei Ihnen Beschwerden? Und die sagt, Nein, alle sind zufrieden, allen schmeckt das Essen – dann sagen Sie danke und auf Wiedersehen. Das gibt es nicht. Niemand wollte ins Heim, und wenn sich 50 Prozent wohlfühlen, ist das in Ordnung.

S: Nicht mal bei Schuhbeck schmeckt allen das Essen.

F: Beim Notarzt oder Bestatter nachfragen. Die kommen unangemeldet ins Pflegeheim. Nicht von guten Noten täuschen lassen.

S: Am Besten gehe ich unangemeldet in verschiedene Einrichtungen. Rede mit den Leuten, mit Pflegern – haben sie Zeit dafür? Gibt es einen Garten, gibt es Tiere im Heim? Wenn viele Menschen ein- und ausgehen, zu Besuch kommen, dann ist das ein gutes Zeichen. Angehörige sind das beste Frühwarnsystem.

Glauben Sie noch daran, dass Ihre Forderungen irgendwann umgesetzt werden?

S: Was wir fordern ist kein Luxus, sondern absolute Mindeststandards. Grundrechte. Menschen müssen zu Essen und zu Trinken bekommen. Auf die Toilette dürfen. Selbst im Knast haben die Insassen Hofgang. Das ist doch absurd, dass man das überhaupt einfordern muss.

 

 

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