Als Kind in die Isar gefallen - "Ein Knacken, dann war ich weg"
München - Es ist der 15. Februar 1953, ein bitterkalter, windiger Sonntagnachmittag, mit 17 Grad unter Null. Am Vormittag war Faschingsumzug, in der Stadt herrschte ausgelassene Stimmung.
Die Isar ist bei dieser Kälte zugefroren. Und an der Praterinsel, nahe des Mariannensteges, laufen ein paar Lausbuben im Cowboy- und Indianerkostüm über die glatte Eisdecke, die unter den Stiefeln ganz sicher scheint. Der Kleinste, der 12-jährige Helmut, wagt sich noch ein Stückerl weiter raus als seine Kameraden. Dieser Wagemut hat fatale Folgen: "Es hat geknackt und dann war ich weg." Das sind alle Erinnerungen, die der heute 75-jährige Helmut Zenger an den Moment hat, als er ins Eis einbrach und der ihn fast sein Leben kostete.
Schwerkranke Münchnerin: "Jetzt sag ich leise Servus"
"Als ich wieder aufgewacht bin, war ich im Klinikum rechts der Isar", erzählt er. Dazwischen ist alles schwarz, als hätte es diese Stunden, in denen sein Leben am seidenen Faden hing, nie gegeben. Als das Eis den Buben plötzlich nicht mehr trägt und er in der Tiefe verschwindet, ist die Aufregung bei den Spezln groß. Zuerst versuchen sie noch, ihn am Cowboy-Halstuch zu packen, ohne Erfolg. Wie von der Tarantel gestochen, rennen sie zum Kiosk am Ufer. Der glückliche Zufall will es, dass der Betreiber auch Hausmeister in der Brennerei Anton Riemerschmid ist und dort in seiner Kammer ein Telefon hat.
Die Beamten zögern keine Sekunde und steigen ins Wasser
Erst 1949 war bei der Polizei die Funkstreife durchgeboxt worden, eine Sensation damals. Und für das Kind im eiskalten Isarwasser die Rettung. Drei Mann der Streife Isar 1 sind gerade in unmittelbarer Nähe auf der Maximiliansbrücke unterwegs, um 17.30 erreicht sie der Funkspruch. Sie rasen an die Unglücksstelle. Noch während sie zum Ufer rennen, werfen sie ihre Dienstwaffen und Jacken weg, ziehen die Stiefel aus und steigen ohne zu zögern ins Wasser. Temperatur: Minus zwei Grad.
Erich Hieb und Georg Müller steigen in das klaffende Loch im Eis, unter dem die bitterkalte Isar strömt, krallen die Hände ineinander, Hieb taucht unter. Mit den Beinen suchen sie nach dem Kind, nichts. Helmut ist inzwischen schon mehrere Minuten im Eiswasser. Noch einmal taucht Hieb unter, tastet und endlich spürt er den reglosen Körper, kriegt ihn zu packen und taucht keuchend auf. "Schorschi, i hob eahm!"
Kurz nur ist die Erleichterung, dann tragen die Beamten den Buben in Windeseile ans Ufer, wo ihr Kollege Bernhard Marx wartet. Die Jubelschreibe der oben auf dem Wehrsteg versammelten Menge hören sie gar nicht. Sie spurten nur zum Auto.
Über acht Stunden lang kämpfen die Ärzte um das Leben des Kindes
Mit einem Affenzahn brettern sie in die Klinik, über Funk werden schon die Ärzte informiert. Schmale Reifen hat der Wagen, keine Sicherheitsgurte, kein ABS und am Vormittag hat es geschneit. "Ich bin gefahren wie ein Irrer, in der Kurve hingen zwei Reifen in der Luft", erzählt Müller später.
Sie erreichen das Krankenhaus: Der Überlebenskampf für den kleinen Helmut ist aber noch nicht vorbei, die Ärzte machen sich an die Wiederbelebung. Sauerstoff wird angesetzt, Herzdruckmassage, Bürstenmassagen und Lichtbestrahlung. Kurz melden sich das kleine Herz und die schwache Atmung, dann setzen sie wieder aus. Achteinhalb Stunden dauert der Kampf. Dann ein Schrei, die Finger des Buben krampfen sich zusammen.
Helmut Zenger meldet sich wieder ins Leben zurück, der kleine Cowboy hat es geschafft. Und während er in einen erschöpften Schlaf sinkt, wechseln seine Retter daheim die klatschnassen Kleider um sich wieder zum Dienst zu melden. Da befiehlt sie Amtmann Sutter aber sofort in Präsidium. Nach so einer Aktion gibt’s keinen Dienst, sondern eine Flasche Schnaps – vom Arzt empfohlen freilich.
Der Sohn seines Retters spielt später in einem Film über das Unglück
Als der Bub sich ein wenig erholt hat, besuchen sie Helmut im Krankenhaus "I dank eahna aa schee", sagt er artig und vor allem ehrlich. In den kommenden Jahren wird er besonders Marx noch oft besuchen, und an Weihnachten oder zu Ostern mit dessen Sohn spielen.
Zum 30-jährigen Jubiläum schenkt er seinen Rettern gravierte Zinnbecher. Über das Unglück wird auch ein Lehrfilm für Schulen gedreht, im Nymphenburger Kanal werden die Wasserszenen nachgestellt – mit Erich Hiebs 12-jährigem Sohn in der Rolle des Helmut.
So kommt es, dass Oberkommissar Harald Kraft die Szenen seltsam bekannt vorkommen, als er bei der Recherche für eine Chronik der Fernmeldedienststelle recherchiert. Über die Gefahr vom Spielen auf zugefrorenen Gewässern haben außer Kraft wohl unzählige Kinder an bayerischen Schulen durch diesen Film gelernt.
Über 63 Jahre ist das inzwischen her. An einem sonnigen Vormittag im Mai steht Zenger jetzt wieder an der Unglücksstelle. Der Fluss plätschert friedlich, ein Mädchen watet durch das Wasser zur Kiesbank. Kaum vorzustellbar, dass sich hier einst so dramatische Szenen abspielten, in denen zwei Polizisten nicht zögerten und ihr eigenes Leben riskierten, um das des Buben zu retten.