80 Jahre Israelitische Kultusgemeinde: Ein jüdisches Wunder in München
Am Anfang stand der Albtraum. Ausgezehrt und von der Zwangsarbeit gezeichnet, kehrt Fritz Neuland im Mai 1945 zu seiner Tochter Charlotte zurück. Der jüdische Anwalt kommt, um sie abzuholen und mit ihr zurück in ihre Heimatstadt München zu fahren. Charlotte Knobloch war damals 13 Jahre alt und hatte die letzten Kriegsjahre – versteckt vor den Nazis – bei Bekannten im mittelfränkischen Dorf Arberg überlebt.
Trotz all des Leids, das die Familie persönlich erlebt hat, trotz der Deportierungen und der systematischen Ermordung von Juden in seinem Heimatland, trotz all des Grauens, an dem so viele Deutsche beteiligt waren, will Fritz Neuland nicht auswandern. Er ist gekommen, um zu bleiben. In München. Trotz alledem.
Seine Tochter beschrieb später in ihren Erinnerungen eine Szene, in dem ihr Vater zu ihr sagte: "Wir haben uns in den letzten zwölf Jahren nicht vertreiben lassen. Wir werden uns jetzt nicht vertreiben lassen."

"Mein Vater wollte nicht nur hierbleiben, er wollte auch gestalten", beschrieb es Charlotte Knobloch. Der Anwalt Fritz Neuland wollte jüdischem Leben in München wieder eine Chance, eine Heimat geben.
Die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
Und so wird Charlotte Knoblochs Vater unmittelbar nach der Nazi-Zeit und dem Holocaust zum maßgeblichen Mitgründer der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern.


Nur 68 Tage nach Kriegsende findet im jüdischen Altenheim in der Kaulbachstraße 65 die konstituierende Sitzung statt. Der Verwaltungssitz zieht in die Herzog-Max-Straße, ganz nah an den Ort, wo bis 1938 die Hauptsynagoge stand, die auf Hitlers Befehl zerstört worden war. Die Synagoge in der Reichenbachstraße hatte die NS-Zeit überstanden, war aber verwüstet. Am 20. Mai 1947 wird sie wieder eingeweiht.

Die Neugründung der IKG in München vor genau 80 Jahren ist eine Wiedergründung. Denn vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Gemeinde rund 10.000 Mitglieder gehabt. Als die US-Truppen bei Kriegsende München erreichten, fanden sie nur noch 84 Jüdinnen und Juden vor, die in Verstecken überlebt hatten. Etwa 12.000 Juden waren ins Ausland vertrieben, deportiert oder ermordet worden. Jüdisches Leben, so bezeichneten es die Historiker Richard Bauer und Michael Brenner später, "existierte im Mai 1945 nur noch in der Erinnerung."


Dass sich das jüdische Leben nach 1945 wieder etablierte in der von den Nazis einst als "Hauptstadt der Bewegung" genannten Stadt, bezeichnete der frühere Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel später einmal als "Wunder". Und das war es sicherlich auch.
80 Jahre Kultusgemeinde: Würdigung für Charlotte Knobloch
Zum Festakt der 80-jährigen Wiedergründung der Kultusgemeinde fand am Montagabend ein großer Festakt in der Ohel-Jakob-Hauptsynagoge am St. Jakobs-Platz statt – unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen, der ganze Jakobsplatz war weiträumig abgesperrt, unzählige Polizisten waren im Einsatz, auch Spürhunde der Polizei, die Gepäck durchschnüffelten.

Als "jüdische Bavaria" und "Grande Dame" des bayerischen, deutschen und europäischen Judentums würdigte Landtagspräsidentin Ilse Aigner Charlotte Knobloch, die die Israelitische Kulturgemeinde seit 40 Jahren prägt. "Sie haben das jüdische Leben hier wieder aufgebaut", so Aigner. Sie mahnte aber vor den "immer höheren Wellen des Judenhasses", viele Juden fühlten sich in München nicht mehr sicher.


LMU-Professor Philipp Lenhard bezeichnet die Geschichte der IKG in seiner Laudatio als "Erfolgsgeschichte". Die Wiedergründung damals sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass Jüdinnen und Juden und auch das Judentum als Religion und Kultur "wieder ein selbstverständlicher Teil Münchens geworden sind".
Oberbürgermeister Dieter Reiter betonte in seiner Rede besonders den Mut und die Verdienste von Knoblochs Vater. München werde eine Straße nach Fritz Neuland benennen "als Zeichen der Würdigung", versprach er.

Der jüdische Publizist und Philosoph Michel Friedman erinnerte in seiner Rede noch mal an die Anfänge 1945. "Die meisten Juden waren nicht mutig, sie waren zerbrochene Menschen, die hierher gespült wurden. Das war jüdisches Leben 1945." Und fügte an: "Man ließ uns allein. Nicht mal die Zinseszinsen unseres geraubten Vermögens stecken hier drin (in der Synagoge)."

Und, an Charlotte Knobloch gewandt, meinte er: "Du bist die einzige Zeitzeugin." Knobloch stehe in der jüdischen Gemeinschaft für Frauenemanzipation, sie sei die einzige Frau, die seit Jahrzehnten eine jüdische Gemeinschaft führe.
Von 2006 bis 2010 war Charlotte Knobloch sogar Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Warum sie damals ausschied? Friedman sagte zu ihrem offenbar nicht ganz freiwilligen Ausscheiden: "Du bist vom Zentralrat gebeten worden zu gehen – alles andere ist geheuchelt. Wärest du ein Mann, wärest du es heute noch."
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