24 Jahre nach Tschernobyl: Verstrahlte Säue
MÜNCHEN - Jedes fünfte geschossene Wildschwein ist radioaktiv verseucht und muss entsorgt werden. Grund ist ein Pilz, von dem sich die Tiere ernähren. Die AZ erklärt, wie Bayerns Jäger damit umgehen
Das mit der Jagd ist ohnehin so eine Sache. Nicht alle mögen Jäger. Es gibt auch Menschen, die lehnen es ab, Wild zu essen. Und dann kommt noch eine Geschichte wie diese hier. Sie handelt von bayerischen Wildschweinen, die geschossen werden. Rund 42000 waren es allein im vergangenen Jahr. Heuer dürften es ähnlich viele werden.
Dabei wird jedes fünfte getötete Tier, etwa aus dem Bayerischen Wald, nicht beim Metzger oder auf dem Tisch landen – sondern in der Tierverwertung. Denn Bayerns Wildschweine strahlen: Sie sind radioaktiv verseucht.
„Diese Tiere sind aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zum Verzehr geeignet“, sagt Strahlen-Experte Dr. Joachim Reddemann, Hauptgeschäftsführer vom Landesjagdverband Bayern. Übersteigt der Cäsiumwert in Lebensmitteln die 600-Becquerel-Grenze pro Kilogramm (Bq/kg), muss das Fleisch vernichtet werden.
Bei einer Wildschwein-Fleischmessung machten die Experten vom Münchner Umweltinstitut diese bemerkenswerte Entdeckung: Das Fleisch war mit 70000 Bq/kg verseucht – das ist mehr als das Hundertfache des festgeschriebenen Grenzwerts.
Eine Ursache für die strahlenden Schweine ist der Hirschtrüffel, den sie derzeit so gerne fressen. Der Pilz ist eine Delikatesse für Wildschweine, aber seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl in vielen Gegenden von Bayern radioaktiv sehr stark belastet.
Die Folgen des Super-Gau 1986 im damaligen sowjetischen Unglücks-Meiler (auf dem Gebiet der heutigen Ukraine) sind seitdem spürbar. Die Ablagerung radioaktiver Isotope auf die Böden fiel damals europaweit sehr unregelmäßig aus und konzentrierte sich in Deutschland vor allem auf Baden-Württemberg und Bayern.
Je nach Region und Jahreszeit sind Bayerns Wildschweine extrem unterschiedlich radioaktiv belastet. „Solange die Schweine im Sommer Weizen, im Herbst Mais oder Eicheln fressen, schlagen die Messgeräte nicht Alarm“, erklärt Christina Hacker vom Umweltinstitut in München (siehe auch Interview unten). Versiegen aber diese Futterquellen, graben die Wildschweine nach Hirschtrüffeln, die für Menschen ungenießbar sind. Hacker: „Diese Pilze reichern strahlendes Cäsium wesentlich stärker an als Steinpilze oder Pfifferlinge“.
Ab Dezember bis Mitte Mai strahlen die Wildschweine am intensivsten in unseren Wäldern. Die Belastung in ihrem Körper nimmt dann erst wieder ab, wenn sich ihr Futterplan ändert.
Damit der krebserregende radioaktive Stoff nicht in Form einer Wildschweinkeule in Wacholder auf dem Esstisch landet, messen staatliche Institute und bayerische Jäger an insgesamt 99 Stationen das Wildbret. Allein im vergangenen Jahr wurden 22 Messstationen neu eingerichtet. Der Bayerische Jagdverband hat laut dessen Geschäftsführung über 320000 Euro in solche Apparaturen investiert.
„Wir untersuchen immer Fleisch aus belasteten Gebieten, wenn es in den Handel soll“, versichert Reddemann. Wird der Grenzwert von 600 Becquerel überschritten, darf das Fleisch nicht verkauft werden. Das tote Tier wird vernichtet, der Jäger erhält eine Ausgleichszahlung.
Bayerns Jäger versuchen, gegen die radioaktive Belastung im Wild vorzugehen. In einem Forschungsprojekt mit der LMU München füttern sie seit 2008 Wildschweine mit Salzen, die das gefährliche Cäsium binden sollen. Der radioaktive Stoff soll auf diese Weise ausgeschieden und nicht im Fleisch eingelagert werden. Ende 2011 erfolgt die erste Auswertung der Aktion.
„Für viele Menschen ist Tschernobyl schon wieder sehr weit weg“, sagt Hacker „aber die Natur vergisst eben nicht so schnell.“
Natalie Dertinger