Plan Bäh

Wer reist, träumt. Von einem anderen, besseren Leben. Träumen ist legitim, es ist gut. Es freut die Wirtschaft, den Reiseveranstalter, die Parfümerie auf dem Flughafen, den Jägerschnitzelklopfer auf Malle. Je mehr wir träumen, desto mehr reisen wir – und umgekehrt. Und je mühseliger der Alltag, desto größer ist das Bedürfnis nach einer Auszeit. In der Auszeit wird man endlich wieder sein wahres Ich finden, hoffen wir. Und dann, mit dem Blick aus der Ferne, erscheint einem zu Hause alles so absurd, so sinnlos. Dann gibt es diesen unseligen Urlaubsmoment meist kurz vor der Abreise, wenn man alles hinschmeißen und von vorn beginnen will. Nur nicht zurückkehren. Ab sofort den Traum leben. Heimat, Job, Familie ade. Wie schön muss es wohl sein, fortan Olivenbauer in Ligurien zu sein? Hippie auf Goa? Surfer auf Hawaii? Baumfäller in Kanada? Oder vielleicht Schnitzelklopfer auf Malle? Man darf doch mal träumen. Träumen vom Aussteigen. Vom Plan B.
Der Aussteiger gilt in unseren Breitengraden als bewundernswerter Nonkonformist, als Held, weil er nicht sein will wie die anderen, die immer wieder zurückkehren in den alten Trott. Dieses ausgesprochen positive und romantische Bild vom Alltagsflüchtling verdanken wir mitunter den größten Künstlern, vor allem den Literaten und Malern, welche seit je die Sonderlinge und Müßiggänger den Angepassten vorziehen. Ob es sich dabei um einen heimischen Extremwanderer wie in Joseph von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ handelte oder um jene farbsatte Verherrlichung der exotischen Menschen und Landschaften in der Südsee von Paul Gauguin – stets war die Sehnsucht nach dem Fremden auch Kritik am Mainstream. Doch längst ist der Aussteiger in der ernsten Kunst zum wandelnden Klischee geworden. Kein seriöser Dichter oder Maler glaubt heute noch an ein Paradies im Diesseits. Was blieb, ist Kitsch. Sich in netten Urlaubslandschaften zu verirren und den Nachhauseweg zu verfehlen, ist mittlerweile ein beliebtes Motiv der Massenmedien.
Viele Auswanderer kehren desillusioniert zurück
Im Fernsehen heißt das Dauerbrenner-Format „Goodbye Deutschland. Die Auswanderer“, in dem Menschen meistens beim Scheitern im Ausland gezeigt, nein: vorgeführt werden. Viele von ihnen kehren dann desillusioniert zurück, auch dafür gibt es eine entsprechende Dokusoap und sogar eine aktuelle Statistik vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Vier von fünf deutschen Auswanderern, die seit 1996 ihre Heimat verlassen haben, sind inzwischen zurückgekommen. Man kann davon ausgehen, dass darunter viele waren, die eine neue berufliche Existenz eben auch in klassischen Urlaubsländern wie Spanien und Frankreich gründen wollten und statt eines Traums einen Albtraum erlitten haben. Julia Roberts schickt ihre Heldin Liz Gilbert in dem Kinofilm „Eat, Pray, Love“ auf eine unterhaltsame wie vorhersehbare Ich-Suche. Eine Karrierefrau lässt ihr fast perfektes Leben hinter sich, bricht auf zu einer Reise rund um die Welt, entdeckt in Italien (wo sonst?) ihre verkümmerten Geschmacksnerven wieder, lernt in Indien das Meditieren. In Bali schließlich erfährt die Dame zu guter Letzt, was wahre Liebe bedeutet. Ein Film wie gemacht für unsere sinnhungrige Zeit. Man konnte es aber auch niemandem verdenken, wenn er nach dem Film ans Auswandern dachte – in ein Land ohne Kinos. Es ist deshalb an der Zeit, den Aussteiger vom Heldenpodest zu stürzen.
Im Grunde ist er ein Narziss, der sich mit seinem altlinken Selbstverwirklichungsterror lächerlich macht. Statt seine Probleme zu lösen, flüchtet er. Er scheut die Verantwortung, verpackt aber seine Aktion in eine heroische Systemkritik. Er verlässt die Familie, Freunde, die ratlos hinterherwinken. Verzichten will er auf diese Beziehungen freilich nicht: Der moderne Aussteiger bloggt, twittert, hat eine Website, lässt sich für Vox oder RTL abfilmen, schickt ganze Reisetagebücher an Zeitungen, dokumentiert jeden Schritt im vermeintlichen Zivilisationsabseits. „Der Held braucht Zeugen“, sagt der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf. „Robinson konnte auf seiner Insel keine Heldentaten vollbringen. Der Held braucht Anhänger, denen seine Tat nützt.“ Wenn heutzutage ein verirrter Weltumsegler nach Jahren auf hoher See aus dem Meer gefischt wird, hat er keine Fans verdient. Größten Respekt verdienen daher die stillen Helden des Alltags: All jene, die am letzten Urlaubstag brav die Koffer packen und tapfer zurückkehren. Die keine Angst haben vor dem Wahnsinn des Normalen. Sie träumen. Doch Träumer sind sie nicht.