Interrail-Ticket: Grenzenlose Freiheit

Redakteure und Autoren erinnern sich an ihre Touren mit dem aufregendsten Angebot.
von  Andrea Weller

Als 1972 der Internationale Eisenbahnverband das Interrail-Ticket als Jubiläumsaktion zum 50-jährigen Bestehen auf den Markt brachte, bedeutete das für junge Reisende mit knappem Geldbeutel vor allem eines: grenzenlose Freiheit. Für 235 D-Mark einen Monat lang kreuz und quer 21 Länder in Europa auf dem Schienenweg erkunden zu können - dieses Angebot der Bahn für unter 21-Jährige war die Verheißung schlechthin.

Geschenkt, dass die Züge oft zum Bersten voll waren, geschenkt, dass die Sitzplätze nicht reichten und man es sich mit Rucksack, Zelt und seiner unbändigen Abenteuerlust in den Gängen auf dem Boden bequem machen musste. Gerade diese Enge machte auch den Reiz aus: So auf Tuchfühlung mit den Mitreisenden kam man locker ins Gespräch, änderte daraufhin oft spontan seine Reisepläne, blieb unvorhergesehen irgendwo hängen. Freundschaften entstanden und Liebesabenteuer - manche waren fürs Leben, andere
endeten bereits an der nächsten Haltestelle.

Der Weg ist das Ziel: Das war Interrail, und das ist es bis heute geblieben. Heute Stockholm, morgen Madrid: Redakteure und Autoren erinnern sich an ihre Touren mit dem aufregendsten Sonderangebot der Bahngeschichte - das Interrail-Ticket sorgt seit 40 Jahren dafür, dass junge Reisende flügge werden.


Dass Männer kochen können, sogar gut kochen­ können, war vor 27 Jahren keine Selbstverständlichkeit. Okay, selbst heute ist dem noch nicht so. Immerhin bekommen die meisten ein Spiegelei hin.

Aber Meeresfrüchte­salat mit Zitronen-Knoblauch-Vinaigrette? Spaghettini mit Fenchel und Sardinen? Kalbsschnitzelchen mit Parmaschinken und Salbei? Da läuft einem doch das Wasser im Mund zusammen - vor allem, wenn all diese Köstlichkeiten am benachbarten­ Campingtisch serviert werden. Während man selbst an Weißbrot mit Erdbeermarmelade mümmelt, weil das Geld gegen Ende einer einmonatigen Zugreise durch Frankreich, Spanien, Portugal und Italien für mehr nicht mehr reicht.

Die gierigen Blicke waren irgendwann­ wohl nicht mehr zu ertragen: Die zwei hübschen italienischen Jungs aus dem Nachbarzelt (riesig, mit Vorzelt) hatten Erbarmen - und luden uns ein. „Mangiate!“, sagten sie. Was man mit etwas gutem Willen als „Haut rein!“ übersetzen kann. Die Jungs fanden den gesegneten Appetit dieser beiden 18-jährigen Mädchen aus Deutschland und Frankreich amüsant, fortan bekochten sie uns jeden Abend. Während wir Neapel erkundeten, Pompeji und Herculaneum besichtigten und am Strand fläzten, müssen die zwei stundenlang geschnippelt und gekocht haben. Stets gab es mindestens drei Gänge. Eine Gegenleistung? Wurde nicht erwartet. Nicht mal spülen durften wir. Ein Luxusleben!

Flirtversuche allerdings wurden freundlich abgeblockt. Irgendwann fiel der Groschen: Wir hatten das erste schwule Paar unseres Lebens kennengelernt. Inzwischen gab es bei Gegenbesuchen in Stuttgart und Macon längst eine Revanche - unter anderem mit Kässpätzle und Bœuf bourguignon.

Bettina Hartmann, 45, Redakteure


Der erste Urlaub nicht nur ohne Eltern, sondern auch ohne jegliche Aufsichtspersonen vom Sportverein, vom CVJM oder wer Mitte der achtziger Jahre sonst noch Jugendfreizeiten anbot. Nur mein Kumpel (16), ich (17), zwei Rucksäcke, ein Zelt - und zwei Interrail-Tickets. Das war 1987. Nach Südfrankreich wollten wir, nach Spanien, vielleicht Portugal, mal sehen. Wir kamen nicht so weit. Die erste Station war Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue. Es blieb die einzige.

Wir lernten Studenten aus Freiburg kennen, aus Kamerun eingewanderte Kellnerinnen und einen englischen Psychobilly mit Cockney-Akzent und Kassetten von Bands, die wir vergötterten, deren Konzerte zu besuchen wir uns aber nicht leisten konnten.

Wir sangen vor der Kirche Beatles-Songs zur Gitarre, und ich war so begeistert, dass ich dem belgischen Geschäftsmann mit dem Kofferraum voller Alkohol glaubte, dass er mich nur zum Zigarettenholen mit aufs Hotelzimmer nehmen wollte. Immerhin akzeptierte er mein „Nee du, lass uns mal wieder zum Strand gehen“ - so wie ich akzeptieren musste, dass die afrikanischen Schönheiten lieber mit den Freiburgern ins Zelt gingen. Aber wir fingen ja auch erst an.

Alexander Ikrat, Redakteure, 42


Damals, 1976, gab es noch das kommunis­tische Reich des Bösen, und so kamen wir uns ziemlich wagemutig vor, als wir nach Jugoslawien fuhren. Aus welchem Grund auch immer betraten wir Titos Reich durch den Hintereingang, in einem Vorortzug von Triest aus. Drei Interrailer in einem Zug voller Jugos, so sagte man damals, die prall gefüllte Taschen hatten, die Beute eines Shoppingtages im benachbarten Italien. Nur musste die jetzt durch den Zoll. Wir waren plötzlich begehrte Gesprächspartner. „Pivo, Pivo“, boten sie als Prämie - und stopften West-Jeans in unsere Rucksäcke.

Wir sahen uns schon im Straflager, aber die Grenzer waren lässig, wie es überhaupt das Reisen in Jugoslawiens Zügen war. Die Abteile waren zwar immer doppelt belegt, aber wir hatten stets sozusagen Familienanschluss. Fast jeder Mann konnte Deutsch und arbeitete bei uns daheim. Und alle schienen sich vom Verdienst Häuser in Jugoslawien zu bauen. Ich musste später oft an sie denken: als aus Jugos Kroaten, Serben, Bosnier wurden, die sich ihre Häuser anzündeten oder wegnahmen. Die Welt ist nicht immer nur ein sonniger Interrail-Trip.

Wolfgang Albers, 54, Reisejournalist


Wer in den Sommerferien morgens um sechs Glasscherben und Pappeisbecher von der größten Promenade am Bodensee aufsammelt, ellenlange Blumenbeete säubert und Gras von fußballfeldgroßen Rasenflächen recht, braucht ein Ziel vor Augen. Unseres hieß im Jahr 2000: Skandinavien.

Ein Jahr und ein Abi-Zeugnis später konnten meine Freundin und ich das Ferienjob-Geld von der Stadtgärtnerei endlich gegen ein Interrail-Zugticket mit viel Platz für Notizen eintauschen. Jede Strecke, jeder Kilometer konnte darin notiert werden. Für besonders weit Gereiste gab es am Ende eine Belohnung. In riesigen Ländern wie Schweden sollte das kein Problem sein. Dachten wir. Und wir wären sicher auch ganz vorn mit dabei gewesen - hätte man die zu Fuß zurückgelegten Kilometer auch irgendwo eintragen können. Denn die Züge im Norden sind zwar höchst bequem und originell. Was aber bringt einem ein eigenes Kinderspiel-Abteil, wenn der Zug nicht in den Ort fährt, in den man möchte? Also sind wir gelaufen, endlose Strecken, mit viel zu schweren Rucksäcken. Vor allem aber mit jeder Menge Zeit für viele tiefsinnige und noch mehr unsinnige Gespräche. Nach vier solchen Wochen kennt man von einem Menschen Seiten, die man vorher vielleicht nicht unbedingt kennenlernen wollte. Aber nur, weil man sie kennt, ist der Mensch bis heute das, was er ist: die beste Freundin.

Sandra Markert, 30, Redakteure


Damals, als freche Bengel die abendliche Lesestunde mit der Taschenlampe verlängerten, um „Räuber Hotzenplotz“ oder Disney-Taschenbücher zu verschlingen, da nahm ich lieber Reisebildbände oder Landkarten mit unter die Bettdecke, um von der großen weiten Welt zu träumen. Meine Karriere als Entdecker und Reisejunkie war vorgezeichnet.

Kaum 16 geworden, hielt ich konsequenterweise ein Interrail-Ticket in der Hand. Mein Reisefieber unterdrückte alle Qualen, die von dem unpraktischen Gestellrucksack ausgingen. Über Calais ging’s mit der Fähre nach Dover, der klassische Weg nach London. Es war zu jener Zeit, in der Bundeswehr­hosen der letzte Schrei waren: Ich hatte zwei lange und eine kurze BW-Hose im Gepäck. Doch schon nach der zweiten Nacht in der Jugendherberge in London hatte sich irgendein BW-Fan meine langen Hosen unter den Nagel gerissen. Fortan ging’s in Shorts weiter. In den Highlands von Schottland trat die erste Gänsehaut auf, im Tuileriengarten von Paris wärmte ich mich wieder auf. Doch dann wurd’s frisch: Auf der Strecke durch die Rhone-Alpen musste ich im Übergang zwischen zwei Waggons auf dem Boden schlafen. Am nächsten Morgen: Husten, Schnupfen, Fieber. Ich zog die Reißleine und verließ schon nach zwei Wochen die Schienen. Über Straßburg ging’s zurück nach Deutschland. Im Bett kurierte ich die Erkältung aus. Und holte mir mit einer Landkarte als Lektüre schon das nächste - Reisefieber.

Martin Cyris, 45, Reisejournalist




 

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