„Fragen Sie den Kollegen“
Der Mann ist gut drauf. Zwischen der Haltestelle Karlsplatz und der Endstation am Flughafen Tegel raunzt er so ziemlich alle Fahrgäste an, die sich nicht mit schlafwandlerischer Sicherheit in seinem Bus der Linie TXL bewegen. Der Mann darf das. Er ist schließlich der Fahrer.
Der Japaner, der das Fahrgeld nicht passend auf die Theke legt: Er wird mürrisch und penetrant belehrt, dass es schließlich Fahrpläne gebe, die einzuhalten sind, und da bliebe keine Zeit fürs Große-Scheine-Wechseln. Der Franzose, der seinen Rollkoffer etwas ungeschickt im Gang deponiert: Ihm wird lautstark bedeutet, wie dämlich er sich anstelle, und dass er nicht allein im Bus sei. Nicht zuletzt der Bayer, der mit seiner Tageskarte hinten einsteigt: Er wird schneidend quer durch den Bus gefragt, „seit wann det denn nu erlaubt“ sei und „det det nu janich“ ginge. Der Japaner, der Franzose und der Bayer werden nicht alles begriffen haben. Das mag uns beruhigen. Doch deswegen dürften sie wohl auch die selbstgefällige Einschätzung des Fahrers nicht verstanden haben, die dem verschüchterten Fahrgast in der ersten Reihe ungefragt aufs Ohr gedrückt wird. „Nur jut“, sagt der Mann an der Endstation und atmet stolz tief durch, „dat ick imma so sachlich bleibe, wa?“
So was gehört zum Lokalkolorit - und wird manchmal gern verniedlichend als Berliner Schnauze geadelt. Berlin kann mit dem Proletenjargon „jut“ leben - aber St. Moritz? Ein weltbekannter nobler Ski-Ort, in dem nur die Schweizer Bergspitzen höher sind als die Preise? Ruppige Wirte, mürrische Bedienungen, aufgeblasene Ski-Lehrer, gelangweilte Verkäuferinnen, arrogante Apotheker oder unzuverlässige Handwerker - und das obendrein noch zu diesem Franken-Kurs? Nein, das geht gar nicht, haben sich die Touristiker in der traumhaft schönen Ferienregion Engadin St. Moritz gedacht - und gehandelt. Und so läuft seit einigen Wochen eine „Herzlichkeitsoffensive“ mit Herzlichkeitsworkshops und Herzlichkeitstrainern.
„Nur jut, dat ick imma so sachlich bleibe"
Auf dass das Engadin zum Land des Lächelns werde. „Ganz im Ernst“, sagt Ariane Ehrat, die Chefin der Tourismusorganisation, die vor 27 Jahren in der Abfahrt Vizeweltmeisterin geworden war. Ihre Kollegin Sara Roloff weiß aus Erfahrung: „Eine unangenehme Begegnung reicht oft schon, um sich später immer wieder vor allem daran zu erinnern.“ Umfragen im Engadin liefern ein eindeutiges Ergebnis: Die Freundlichkeit gegenüber den Gästen ist mit Abstand das entscheidende Kriterium, ob ein Urlaubsort gut abschneidet oder nicht. Den meisten ist ein freundliches Personal wichtig, mit Abstand folgen Kompetenz und Serviceorientierung. Dass es da auch in St. Moritz Luft nach oben und Verbesserungspotenzial gibt (mal abgesehen von den Luxusherbergen der Reichen und Schönen wie dem Badrutt’s Palace) - weder Ehrat noch Roloff wollen es bestreiten. Und packen an.
„Ob die Sonne scheint, es genügend Schnee gibt oder der Franken-Kurs fällt, darauf haben wir natürlich keinen Einfluss“, sagt Roloff. Aber Herzlichkeit, noch besser, Freude an der Herzlichkeit - das lasse sich schon ein wenig üben. Also werden ganz freiwillig Seminare angeboten, bei denen die eigene Körpersprache mit Übungen thematisiert wird, Hände in den Hosentaschen inklusive. Auch das Selbsterkennen der sogenannten Killerphrasen hat es in sich. Jenes „Haben wir noch nie gemacht“, „Das kostet aber mehr“, „Fragen Sie den Kollegen“ oder „Sehen Sie doch mal da hinten nach“. Tödliche Sätze für Dienstleister - nicht nur im Engadin, wo die Toleranzgrenze niedrig und die Preise hoch sind. Die typische Antwort einer gestressten Bedienung „Das kann ich auch nicht ändern“ wollen sich Ehrat und Roloff jedenfalls nicht zu eigen machen.
Es gehe nicht um „as ufgesetzts Lächla"
Die beiden Damen glauben, dass das Herzlichkeit-Konzept in der Region Anklang findet. Schließlich gehe es nicht darum, ein maskenhaftes Dauergrinsen zu trainieren, sondern um mehr. Nein, sagen sie im Engadin, es gehe nicht um „as ufgesetzts Lächla“. Sondern um Ratschläge wie diesen: „Sie müssen lernen, positive Gefühle festzuhalten, und sie im richtigen Moment in Erinnerung rufen. Dann kommt das Lächeln von ganz alleine.“ Leichter gesagt als getan.
Also wird nach Feierabend geübt, dem Gast bewusst in die Augen zu schauen (wo sonst auch will man ihm die Wünsche ablesen?) oder ihm Spezialitäten auf der Speisenkarte zu erklären. Die Seminare seien gut besucht, die Resonanz erfreulich positiv. „Wir haben auch nach Wochen immer noch mehr Anfragen als freie Plätze“, sagt Ehrat. Auch deshalb ist ein Ende der Herzilein-Offensive nicht abzusehen.
Denn auch in St. Moritz hat man längst erkannt: Die trockenen Schweizer mögen vielleicht das berühmte braune Kräuterbonbon erfunden haben, nicht aber die gastronomische Herzlichkeit. Schlimmer noch: Es sind ausgerechnet die agilen Österreicher, die vormachen, wie man sich locker und mit ein wenig Schmäh bei den Gästen lieb Kind macht. Wie man kleine Fehler weglächelt, sich ein bisschen kulant zeigt, sich den Gästen anpasst. „Wir müssen die hohen Erwartungen übertreffen“, sagt Sara Roloff - und spricht damit sicherlich vielen Tourismusmanagern und Gästen aus der Seele.
Und so hält man es im Engadin mit einem chinesischen Sprichwort. „Wenn du für eine Stunde glücklich sein willst, mache ein Nickerchen; wenn du einen Tag glücklich sein willst, gehe fischen, wenn du für ein Jahr glücklich sein willst, erbe ein Vermögen, wenn du ein Leben lang glücklich sein willst, helfe jemand anderem.“ Vielleicht sollten die Berliner Verkehrsbetriebe überlegen, ihre Busfahrer zur Erholung mal nach St. Moritz zu schicken.
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