Die französischen Briten

Die Kanalinsel Jersey ist eine reizvolle Mischung aus britischer Gegenwart und französischer Vergangenheit.
Andreas Steidel aus St. Helier |
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St. Helier - Jetzt wird es feierlich. Ein Herr mit Zepter und Krone tritt ein. Alle Anwesenden erheben sich, auch die Touristen, die auf den roten Plüschsitzen der Empore Platz genommen haben. Es wird gebetet. Das Vaterunser in französischer Sprache. Notre Père qui es aux cieux! Noch ein paar weitere Sätze in der alten Sprache der Normannen, dann ist die Sitzung des Inselparlaments am Royal Square in der Gegenwart angekommen. Welcome to Jersey, Tacheles wird auf Englisch geredet. Die britische Kanalinsel Jersey ist ein eigenartiges politisches Gebilde.

Der Schriftsteller Victor Hugo hat sie einmal als ein Stück Frankreich bezeichnet, das ins Meer geworfen und von England aufgelesen wurde. Seit einer halben Ewigkeit ist sie britisch und trägt doch ihre französisch-normannischen Traditionen zur Schau. Hier gelten Pfund und Linksverkehr. Doch vom Parlament in London lassen sich die Insulaner nur wenig sagen. Jersey ist Kronbesitz und ausschließlich Queen Elizabeth verpflichtet. Es ist völlig unkompliziert, einer Parlamentssitzung beizuwohnen. Alle zwei Wochen tagen die „States of Jersey“ öffentlich, niemand muss sich anmelden, nur selten sind die Besucherplätze auf der Empore besetzt. Das Gebäude ist ein viktorianisches Ensem­ble mit weißem Deckenstuck und farbigen Ummalungen, vor seinen Türen steht die goldene Statue des englischen Königs Georg II. Hier am britischen Royal Square wurde 1781 von den Franzosen der letzte kriegerische Versuch unternommen, Jersey zu erobern. Die Hauptstadt St. Helier ist das Herz der Insel. Das wirtschaftliche Zentrum, der Marktplatz, der Mikrokosmos dieser englisch-französischen Melange, die sich auf jedem Straßenschild wiederfindet: King Street oder Grand Rue, Liberation Square oder La Route de La Libération.

Knapp 100 000 Menschen leben auf Jersey

Viele Straßen tragen zwei Namen oder einen alten französischen. Auch John Le Feuvre trägt einen alten normannischen Namen. Der 73-Jährige ist Milchbauer im grünen Hinterland der Insel. Ein Lokalpatriot wie aus dem Bilderbuch. „Nur noch 50 Prozent unserer Einwohner“, sagt er, „sind hier geboren.“ Die alteingesessenen Jerseyaner betrachten es mit Argwohn, wie ihre Insel vom britischen Festland aus besiedelt wird. Knapp 100 000 Menschen leben auf Jersey, Tendenz steigend. Mit seinen 280 Milchkühen gehört der Farmer zu einer immer kleiner werdenden Minderheit. Längst geben die Zuwanderer der Finanzbranche den Ton im Steuerparadies an. Jenseits der Hauptstadt geht das Leben seinen gemächlichen Gang.

Es ist schön, mit dem Mietwagen durch die Täler und über die Hügel Jerseys zu fahren. An alten Landhäusern und hohen Steinmauern vorbeizurollen, auf den sogenannten Green Lanes mit 25 Kilometern pro Stunde die Langsamkeit wiederzuentdecken. Hat man sich erst einmal an das Tempolimit, den Linksverkehr und die engen, kurvenreichen Straßen gewöhnt, ist Jersey eine Welt voller Überraschungen. „Muh.“ John Le Feuvres beige-braune Kühe sind überall. Leben in 28 Herden auf der ganzen Insel und haben längst Weltkarriere gemacht. Die Jersey Cow ist heute die zweithäufigste Milchviehrasse der Erde, klein im Wuchs, aber groß in der Leistung. Ihre Butter ist goldgelb und streichzart, ein Leckerbissen zum Gebäck bei jeder Tea-Time. Man isst sowieso erstaunlich gut auf dieser britischen Kanalinsel.

Schneller als 64 km/h darf nirgends gefahren werden

Auch da sind die französischen Wurzeln wohl nicht von Nachteil sowie die Nähe zum Meer, die den Speisezettel mit einer Vielzahl regionaler Produkte bereichert: Hummer, Langusten, Austern und Jakobsmuscheln, sie alle stammen aus den Gewässern vor der Küste Jerseys. Es macht Spaß, sich den Teller füllen zu lassen. Zum Beispiel im Old Smugglers Inn, einer alten Hafenkneipe in der Quaisné Bay. Deftige Portionen werden dort gereicht, Steaks mit Fritten oder Kartoffeln, gegrillter Fisch oder Krabben. Dazu ein Real Ale, ein englisches Bier aus dem Zapfhahn. Wenig Kohlensäure soll es haben und keineswegs eiskalt sein. In der urigen Pub-Atmosphäre kommt schnell etwas zusammen. Da muss man aufpassen, dass der Führerschein nicht auf der Strecke bleibt. Und die Kurven nicht noch kurviger werden, als sie ohnehin schon sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Tourist plötzlich wieder vergessen hat, auf welcher Seite man hier zu fahren hat. Es braucht seine Zeit, um auf Jersey herumzukommen. Schneller als 40 Meilen oder 64 Kilometer pro Stunde darf nirgends gefahren werden - und nur selten sind die Wege kerzengerade oder topfeben. Und immer gibt es etwas zu schauen.

Gerät man nicht gerade zufällig in eine Konversation mit Monsieur Le Feuvre, ist es die steil abfallende Küste, die einen innehalten lässt. Vor allem im Norden sind die Klippen eine Wucht, laden Wanderwege dazu ein, das Auto stehen zu lassen und ein Stück am Meer entlangzugehen. Nur 24 Kilometer sind es bis zur Normandie, zum französischen Festland, von wo täglich Fähren nach Jersey übersetzen. Doch die meisten kommen mit dem Flugzeug aus London. Der Flughafen von St. Helier ist so fein herausgeputzt wie alles auf Jersey. So adrett sauber wie jeder Gehsteig, jedes Nebensträßchen und die ausgedehnten Sandstrände, die vor allem im Süden und Südwesten zu finden sind. Die Küste ist ein Traum, ab und an unterbrochen von ein paar hässlichen Betonbauwerken, die die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg hinterlassen hat. Jersey war das einzige Stück britisches Königreich, das von Hitlers Wehrmacht besetzt wurde. Und das einzige Stück Normandie, das die Alliierten 1944 nicht befreit haben. So ging der Krieg hier erst einen Tag nach der Kapitulation am 9. Mai 1945 zu Ende. Friedlich, ohne dass auch nur eine einzige Schlacht in den fünf Jahren stattgefunden hätte.

Friedlich ist auch jener Punkt an der Südwestspitze, der von einem weißen Leuchtturm überragt wird. La Corbière, der Platz der Krähen, ist der romantische Höhepunkt einer Tagesfahrt über die Insel. Ein Ort, an dem der Granit rotbraun in der Abendsonne leuchtet. Au revoir, Jersey! Goodbye, Jersey! Hier liegt man mit beidem irgendwie richtig.


Anreise
Flüge gibt es nonstop ab Deutschland in der Saison von Mai bis September ab Frankfurt und Hannover mit Air Berlin/Tui Wolters, Düsseldorf (Air Berlin) und München (Lufthansa). Mietwagen kosten etwa 30 bis 50 Euro pro Tag. Buchbar über Veranstalter oder direkt über Avis ( www.avisjersey.co.uk ) oder Europcar Jersey ( www.europcarjersey.com).

Übernachten
Preisgünstiger als Hotels sind Bed-and-Breakfast-Angebote. Einen Accomodation-Guide gibt es unter www.jersey.com oder beim Prospektversand.

Essen und Trinken
Rustikal ist das Old Smuggler’s Inn in der Quaisné Bay ( www.oldsmugglersinn.com), gehoben mit guten Fischgerichten Mark Jordan at the Beach in St. Aubin ( www.markjordanatthebeach.com ).

Allgemeine Informationen
Jersey Prospektversand, Postfach 30 02 60, 63089 Rodgau, Telefon 0 61 06 / 7 17 18, www.jersey.com. Die Sitzung des Inselparlaments am Royal Square kann man ohne Voranmeldung besuchen, getagt wird 14-tägig, Termine gibt es unter www.statesassembly.gov.je .

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