Die Entdeckung der Langsamkeit

Bei einer Fahrt mit dem Hausboot durch den südindischen Bundesstaat zieht das Alltagsleben wie auf einem Logenplatz vorbei.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Gelasenheit prägt das Leben in der südindischen Provinz Kerala
srt 2 Gelasenheit prägt das Leben in der südindischen Provinz Kerala
Für Romantiker gibt es nichts schöneres
srt 2 Für Romantiker gibt es nichts schöneres

Kerala - Bei einer Fahrt mit dem Hausboot durch den südindischen Bundesstaat zieht das Alltagsleben wie auf einem Logenplatz vorbei.

Über dem Wasser liegt noch ein leichter Nebel und hüllt die Kokospalmen am anderen Ufer des Kanals in ein diffuses Licht. Inseln aus Wasserhyazinthen treiben lautlos im Wasser. Auf ihren giftgrünen Blättern staken Reiher und suchen sich ihr Frühstück. Dann steigt langsam die Sonne auf und das Leben in den Backwaters erwacht. Fischer kehren mit ihrem nächtlichen Fang in ihre Dörfer zurück. Die ersten Fähren bringen Pendler zum anderen Ufer, Kinder radeln fröhlich lachend zur Schule.

Die vierköpfige Mannschaft der Discovery hat das Hausboot schon startklar gemacht. Und sobald der Tau auf dem Deck unter den ersten Sonnenstrahlen verdunstet ist, verlassen wir unseren Ankerplatz. Der Elektromotor surrt kaum hörbar. Wie auf einem Logenplatz zieht das Alltagsleben vorbei. Bei Omelette und Fruchtsalat beobachten wir einen jungen Mann bei der Morgentoilette. Im Lendenschurz steht er bis zu den Knien im Wasser und wäscht sich die Haare.

Hier ist von Hektik nichts zu spüren

In den Backwaters im südindischen Bundesstaat Kerala geht das Leben noch seinen geruhsamen Gang. Hier ist nichts zu spüren von der Hektik und dem Lärm indischer Städte. Die amphibische Wunderwelt beginnt gleich hinter der Malabarküste. Sie bildet ein Wasserlabyrinth aus Seen, Lagunen und Kanälen, gespeist von über 40 Flüssen und dem Arabischen Meer. Die Bootstour gleicht einer Fahrt durch ein riesiges Dorf. Das Wasser ist die Lebensader des Landes. Boote liefern die Post aus, der Milchmann holt die Milch der Bauern ab und Mitglieder der kommunistischen Partei tuckern zu ihren Versammlungen. Am Boot flattern rote Fähnchen mit Hammer und Sichel.

600 Boote schippern Touristen durch die Kanäle

Anfang der 90er Jahre kam der Inder Babu Varghese auf die Idee, die traditionell aus Holz, Bambus und Palmblättern gebauten Frachtkähne zu Minihotels umzubauen. Inzwischen schippern über 600 Boote Touristen durch die Kanäle. Auf den Hauptstrecken zwischen Kottayam nach Alleppey kommt es manchmal schon zu regelrechten Staus. Mit der Zeit wurden die rustikalen Boote immer größer, viele passen kaum mehr durch die schmalen Kanäle. Dabei sind die Backwaters gerade dort besonders idyllisch. Kokospalmen und Bananenstauden stehen am Ufer Spalier. Man gleitet vorbei an bunten Häuschen, versteckt im dichten tropischen Grün. Inzwischen haben die meisten schwimmenden Minihotels Fernseher und DVD-Player. "Das Konzept hat sich total geändert", erzählt Stanley Wilson, der in Fort Cochin ein kleines Reisebüro betreibt und Backwater-Touren anbietet. "Seit kurzem gibt es sogar ein Boot mit Swimmingpool", erzählt der Inder und will nicht verraten, wo die von ihm angebotenen Hausboote kreuzen. "Aber dort sind wir garantiert das einzige Boot", beteuert er.

Kleine Refugien in idyllischer Natur

Auch Jörg Drechsel verfolgt mit seinem Designerboot Discovery ein eigenes Konzept. Vor mehr als einem Jahrzehnt blieb der deutsche Ausstellungsdesigner in Fort Cochin, dem historischen Viertel der Hafenstadt Cochin, hängen und baute dort ein über 200 altes Wohnhaus zum stilvollen Hotel Malabar House um. Danach schuf er mit den Malabar Escapes weitere kleine Refugien in idyllischer Natur. Dazu gehört auch die Discovery. Zwei Jahre tüftelte Drechsel an dem Boot. Der Rumpf wurde nach der traditionellen Methode gebaut mit über dem Feuer gebogenen und zusammengenähten Holzbrettern. Ein Generator liefert den Strom für den Elektromotor die Klimaanlage. Mit ihrem geräumigen Schlaf- und Wohnzimmer und moderner Bio-Toilette bietet die Discovery den Luxus einer schwimmenden Hotel-Suite. Der schönste Platz bleibt freilich das Sonnendeck mit seinem einzigartigen Rundblick.

Essen auf Bananenblättern

Langweilig wird es eigentlich nie. Dafür sorgen auch die kleinen Ausflüge. Mit einem Kanu paddeln wir durch die gerade mal zwei Meter breiten, fast völlig mit Wasserpflanzen zugewachsenen Kanäle zum Wohnhaus des Schiffstechnikers Suria. Dort empfängt uns unter einer Bildergalerie hinduistischer Gottheiten seine Frau Maya und sein zehnjähriger Sohn Arjun. Das Essen wird auf Bananenblättern serviert, dem in Kerala üblichen Tellerersatz. Maja platziert kleine Häufchen exotisch gewürzter Gemüsegerichte um einen Berg mit Reis. Gegessen wird mit der Hand.

Stolz erzählt Suria, dass sein Sohn seit kurzem in die katholische Schule geht. Das sei die beste im Dorf, in dem es gleich drei Kirchen gibt. Denn in Kerala waren die christlichen Missionare besonders eifrig. Etwa jeder Fünfte ist Christ. Dennoch gilt der Bundesstaat als Musterbeispiel für das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionen. Farbenprächtige Hindutempel, Moscheen im Zuckerbäckerstil und bonbonfarbene Kirchen existieren hier einträchtig nebeneinander.

Reges Treiben im alten Tempel

Am späten Nachmittag geht es zu einem 250 Jahre alten Tempel in Chempakassery. "Früher war hier ein Palast", erzählt Samboo, der Manager des Reiseunternehmens. Im Inneren des Tempels herrscht reges Treiben. Gläubige verrichten ihre Gebete vor den bunt bemalten Götterstatuen, Tempeldiener zünden die unzähligen Öllämpchen an und aus der Küche klingt das Geklapper von Geschirr. "Hier werden jeden Tag tausend Menschen kostenlos verköstigt", erzählt Samboo, der in der Nähe aufgewachsen ist. Schließlich sei der Tempel sehr reich und besitze 600 Kilo Gold.

Zurück auf der Discovery steuern wir unseren nächtlichen Ankerplatz an. In den Palmwipfeln streiten Hunderte von Reihern um die besten Schlafplätze. Ein Fischadler zieht seine Bahnen am Abendhimmel. "Ab sechs Uhr haben Hausboote Fahrverbot", erzählt Vineeth, der für den Service auf dem Boot zuständig ist. Dann gehören die Gewässer wieder den Fischern, die ihre Netze in den Kanälen auslegen. Vineeth zündet er eine Öllampe an und serviert das Abendessen. Um uns herum herrscht totale Dunkelheit und Stille.

Bärbel Schwertfeger

Weitere Informationen zu Hausboot-Urlaub in Kerala

Flüge: Die meisten Verbindungen führen über die Arabischen Emirate. Die Preise beginnen je nach Saison ab 500 Euro. Visum: Das Visum für Indien ist erhältlich beim Indischen Konsulat in München. Das Visa-Formular kann man von der Seite www.indianembassy.de herunterladen. Beste Reisezeit: Herbst bis Frühsommer. Von Juni bis September bringt der Südwest-Monsun viel Regen. Reiseführer: Südindien, Lonely Planet, Mairdumont Verlag, Ostfildern, 2008, 24,95 Euro Veranstalter: Pionier für Hausboot-Touren in Kerala ist der Essener Indien-Spezialist Comtour (www.comtour.de). Eine viertägige Tour (drei Übernachtungen) mit der Discovery kostet bis Ende April inklusive Vollpension und lokaler Reiseleitung 460 Euro pro Person. Die Touren kann man auch direkt über www.malabarhouse.com buchen. Dort kostet die dreitägige Kreuzfahrt bis April 800 Euro für zwei Personen inklusive Vollpension, ab Mai sind es 600 Euro. Weitere Informationen: Indisches Fremdenverkehrsamt, Baseler Str.46, 60329 Frankfurt, Telefon 069/2429490, www.india-tourism.de

  • Themen:
Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.