Der Kampf ums Dasein
Leichen pflastern unseren Weg, Tausende und Abertausende. Wir haben mannhaft gekämpft im Dschungel von Ecuador und in den Schilfgürteln am Hengelesweiher. Wir haben Blut vergossen, viele kleine Tröpfchen Blut, in Zelten auf Grönland, in Hotelzimmern am Rhein und in den Tundren Sibiriens. Unser Feind ist Legion, und sein Name ist vielfältig und furchterregend: Schnake, Moskito, Blackfly, Stechmücke.
Er kennt keine Gnade, und wir schonen ihn nicht. Und niemand, keiner und keine von uns aus dem großen Heer der Reisenden spürt auch nur einen Funken Reue. Unser Kampfeswille erwuchs früh in Stuttgarter Freibädern oder am Baggersee bei Hannover. Gar zu gern setzten die Bremsen sich ausgerechnet zwischen unsere Schulterblätter, wo sie nicht zu erreichen waren, und manchmal war eine Pferdebremse dabei, und wir jungen Krieger heulten vor Schmerz und vor Wut und schworen uns, wenn wir erst einmal größer wären . . . Unsere Entschlossenheit erstarkte in den Weiten Lapplands, wo wir uns gegen den Ansturm der Biester in den beißenden Qualm der Lagerfeuer flüchteten und daraus auftauchten wie birkengeräucherte Jokkmokker Elchschinken.
Ausgeliefertsein des Menschen an die Natur
Grinsend saßen die alten Sami dabei und ließen die Angriffe der sirrenden Armada über sich ergehen. Und wir beneideten sie um ihre Gelassenheit oder irgendein schützendes Gen. Auch an Schweden erinnern wir uns. Wer je eines Abends versehentlich seinen Schlafsack in einem Sumpf ausgerollt und am nächsten Morgen anstelle seines Kopfes einen streuselübersäten Kürbis vorgefunden hat, weiß, wovon hier die Rede ist: von existenzieller Ratlosigkeit, vom Ausgeliefertsein des Menschen an die Natur, von seinem Hineingeworfensein in die Welt. Nicht zuletzt speist sich unser Kampfesmut aus der Schmach der Niederlagen in Neufundland. Wenn die Kriebelmücken uns wieder einmal fast aufgefressen hatten und die Verzweiflung über uns zusammenschlug wie ein dunkles Tuch, stürzten wir ins Auto, fuhren mit weit geöffneten Türen an, so dass der Fahrtwind die Schwärme hinauswirbelte, und lebten bei geschlossenen Scheiben für zwei, drei Minuten auf.
Dass Karibus, wie wir hörten, in ihren Qualen manchmal plötzlich losgaloppieren und sich in die nächste Schlucht stürzen - wir zweifelten keinen Moment daran. Dabei hat der Feind, zugegebenermaßen, nur die wenigsten von uns je ganz heftig erwischt: Nicht viele schlug er mit Malaria oder einem der anderen Fieber. Aber er foltert uns, wo immer er uns trifft. Stürzt in Schwärmen, die die Sonne verdunkeln, auf uns herab. Oder reibt uns subtil psychologisch auf: Kurz bevor wir einschlafen, ertönt ein peinigendes Surren. Wir machen das Licht an. Nichts. Wir löschen das Licht. Nichts. Wir liegen da, horchen in die Dunkelheit und wissen: Hier drin ist einer. Und er wartet, und er lauert, bis du die Augen nicht mehr aufhalten kannst . . . Sie zwingen uns den Kampf also auf.
Ärmel bis zum Handgelenk
Denn im Grunde sind wir, mit Verlaub, alles andere als blinde Schläger. Als sensible Feingeister sehen wir uns eher, immer offen für ein schönes Stück Architektur, ein gelungenes Essen, eine großartige Landschaft. Es sind die Umstände, die uns zu Berserkern machen und an den unergründlichen Ratschlüssen der Natur zweifeln lassen: Wozu, bitte schön, musste ein simples Glied in der Nahrungskette mit so viel selbstzerstörerischem Furor ausgestattet werden? Natürlich versuchen wir es in unserem Langmut immer wieder mit friedlicher Defensive: Ärmel bis zu den Handgelenken, Hut, Moskitonetz.
Aber man muss die Welt doch betrachten können, ohne sich wie hinter Gittern zu fühlen! Man wird doch hin und wieder mal fotografieren dürfen! So haben wir, der Not gehorchend, unserer buddhistischen Grund-Milde einen Dispens erteilt. Christliche Nächstenliebe führt in dieser Sache ohnehin nicht weiter: Längst, ehe man seinen sirrenden Feinden auf der rechten auch noch die linke Backe hinhalten könnte, haben sie sie gefunden.
Die meisten von uns kämpfen immer noch tapfer mit bloßer Hand. Citronella, Antibrumm, Deet - nach unzähligen Irrungen und Wirrungen haben wir erkannt, dass man gar nicht so viel chemische Kampfstoffe auffahren kann, als dass dieses Arsenal den feindlichen Kamikazes mehr als ein höhnisches Grinsen abnötigte. Im Sommer geht es wieder los. Wir reisen nach Finnland, ins Outback, an den Baikalsee. Und wir werden es wieder tun. Schlagen, klatschen, zermatschen. Und wieder und wieder und wieder.
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