Apulien: Zauberhafte Zuckerhüte
Alberobello - Die rund gebauten Mauern sind unglaublich dick, bis zu drei Meter. Über dem kleinen Innenraum schraubt sich eine kegelförmige Decke nach oben. Darunter bleibt gerade genug Platz für einen Tisch mit vier Stühlen. In der Wandnische steht ein Bett, in einer anderen wurde nachträglich ein Bad eingebaut. Fenster gibt es in dem Ein-Zimmer-Haus keine, nur Öffnungen, kaum größer als Schießscharten. Willkommen im Trullo.
„Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort Tholos ab. Das bedeutet rund“, sagt Marilu Iaccarini, die als Sandra-Bullock-Double arbeiten könnte, wenn sie nicht Touristengruppen führen würde. Sie erklärt: „Ein Trullo hält zwar im Sommer schön kühl und im Winter mollig warm, doch er braucht viel Platz und bietet im Innern nur wenig Raum.“ Über den italienischen Stiefelabsatz verstreut finden sich zwischen Mandel-, Kirsch- und Olivenbäumen immer wieder einzelne Exemplare dieser putzigen Zipfelmützenhäuser. Manche sind Wohnhäuser, andere Geräteschuppen auf den Feldern. Doch nirgendwo stehen so viele Trulli wie in Alberobello - 1400 Stück. Dicht an dicht, ein stacheliges Meer aus grauen Dachspitzen. Als einzigartige architektonische Besonderheit haben es die apulischen Puppenstuben auf die Welterbe-Liste der Unesco geschafft.
"Oft werde ich gefragt, ob hier Schlümpfe wohnen"
„Oft werde ich gefragt, ob hier Schlümpfe wohnen“, sagt Domenico Palmisano, den alle nur Mimmo rufen. Dabei sei sein Großvater zwei Meter groß und stark wie ein Bär gewesen. „Der musste seitlich durch die Tür in den Trullo gehen.“ Der 36-Jährige aus Alberobello ist als einer von wenigen noch nicht aus der Altstadt weg in die Randbezirke gezogen. Seine Familie besitzt gleich 19 der lustigen Häuschen. Zwölf Trulli sind renoviert und werden an Urlauber vermietet oder selbst bewohnt. Sie stehen im touristischen Teil, dem Viertel Monti, wo sich ein Andenkenladen an den nächsten reiht. Sieben von Mimmos Trulli müssen noch modernisiert werden. Eine aufwendige Sache - Denkmalschutz!
Kurioserweise waren die zauberhaften Zuckerhüte, die heutzutage die Kassen klingeln lassen, früher ein Symbol des Mangels. Die Menschen im Valle d’Itria, dem Itriatal, waren bitterarm und litten unter ihrem Lehnsherrn. Graf Giangirolamo II. von Acquaviva soll im 17. Jahrhundert den Bauern befohlen haben, ihre Häuser ohne Mörtel aus aufgeschichteten Steinen zu bauen. „Damals musste man nur für feste Häuser Steuern bezahlen“, sagt Fremdenführerin Marilu Iaccarini. Der zuständige König von Spanien und sein Vertreter vor Ort, der Vizekönig in Neapel, hatten diese Regel erlassen. Wenn eine Inspektion aus dem fernen Napoli bevorstand, ließ der findige Graf die Steinhäuser über Nacht zerlegen. Die Beamten fanden nur Ruinen vor, lose Dachplatten und Steine. Etwa eine Woche soll es gedauert haben, das selbsttragende Kegeldach wieder aufzutürmen. Ein prima Steuersparmodell - von dem jedoch nur der Graf profitierte. „Während Giangirolamo sparte, mussten die Pächter trotzdem an ihn zahlen“, erzählt Marilu Iaccarini. Daher hatten die Bürger von Alberobello irgendwann die Faxen dicke vom Abriss und Neubau. 1797 schickten sie eine Abordnung zum bourbonischen König Ferdinand IV. und bekamen tatsächlich die Unabhängigkeit verliehen. Seit dieser Zeit darf fest gebaut werden, und sogar zweistöckig.
Heute sind Alberobellos ehemalige Schwarzbauten hochoffiziell denkmalgeschützt. 1910 erließ der italienische Staat eine entsprechende Richtlinie. Das war auch nötig, denn die findigen Einwohner hatten die als unpraktisch empfundenen Häuschen zum Teil wieder abgetragen, um aus den Steinen konventionelle Gebäude zu errichten. Lange blieben die Trulli dennoch das Heim der armen Leute. Auch Grazia Tauro (63) wollte nichts wie raus aus dem Trullo. Mit ihren Eltern und zwölf Geschwistern wuchs sie in einem Ein-Raum-Haus im weniger touristischen Viertel Aia Piccola in Alberobello auf. „15 Leute auf 38 Quadratmetern“, sagt sie und rollt die Augen. „Das kann sich heute keiner vorstellen.“ Ihre Mutter lebte bis zum ihrem Tod 1994 im Trullo. Dann erbte die Tochter das windschiefe Häuschen.
Das Stadtviertel Aia Piccola ist weniger touristisch
Warum sie und nicht die anderen Kinder? Grazias Ehemann Pasquale Seistri (61) grinst zahnlos: „Weil meine Schwiegermutter mich so geliebt hat!“ Grazia Tauro rollt wieder die Augen: „Ich bin Krankenschwester und habe sie bis zuletzt gepflegt. Deshalb.“ Zunächst konnten die Eheleute Seistri/Tauro - in Italien behält jeder nach der Heirat den eigenen Nachnamen - mit dem Erbe nicht viel anfangen. Doch dann erklärte die Unesco 1996 die Zipfelmützen von Alberobello zum Welterbe. Pasquale Seistri und Grazia Tauro besitzen seither eine Touristenattraktion.
In schöner Regelmäßigkeit brechen Schaulustige aus aller Welt über das Itriatal herein. „Vor allem, wenn ein Kreuzfahrtschiff im Hafen von Bari liegt, schieben sich hier die Massen durch“, erzählt Fremdenführerin Marilu Iaccarini. Kulturinteressierte sollten daher den Sommer meiden. Pasquale Seistri hingegen mag die vielen Fremden. Jeden Tag spaziert der Schweißer im Ruhestand von seiner Wohnung im modernen Stadtteil zum Trullo und wartet auf Touristen. Stolz zeigt er Schwiegermamas Häuschen - noch im Originalzustand von 1988 - und plaudert mit den Leuten. Eintritt verlangt er nicht, Spenden ist erlaubt. Für ihn die pure Unterhaltung: „Und wissen Sie, was das Beste ist“, flüstert er verschwörerisch, „hier habe ich Ruhe vor meiner Frau. Meistens jedenfalls.“ Die dicken Mauern des Trullo schützen noch heute.
Anreise
Alberobello liegt im Itriatal in Apulien, der italienischen Provinz am Absatz des Stiefels, etwa 50 Kilometer von Bari entfernt. Der Flughafen Bari-Palese wird ab Stuttgart von Germanwings angeflogen ( www.germanwings.com ). Ryanair fliegt ab Frankfurt-Hahn ( www.ryanair.com ). Ab Bari weiter mit dem Mietwagen (am besten von Deutschland aus buchen, etwa über www.holidayautos.de ) oder mit dem Transfer- Service Puglia on ( www.pugliaon.it ).
Unterkunft
Im Trullidorf Alberobello kann man stilecht in einem runden Häuschen übernachten. Domenico „Mimmo“ Palmisano vermietet 12 Trulli im Viertel Monti in verschiedenen Größen, die alle einfach, aber gemütlich eingerichtet sind (ab 90 Euro pro Nacht im Doppeltrullo inklusive Frühstück, www.trulliepuglia.com ).
Von luxuriöser Eleganz sind die Trulli des Resorts Le Alcove, 9 Suiten in der Nähe der Piazza Ferdinando IV (250 bis 290 Euro pro Nacht im Doppeltrullo mit Frühstück, www.lealcove.it ).
Wer mehr Platz und Licht mag, mietet sich im Borgobianco Resort & Spa im nahen Polignano a Mare ein. Das Hotel ist sehr geschmackvoll und mit viel Liebe zum Detail im Stil landestypischer Gutshöfe, der sogenannten Masserien, auf einem Hügel errichtet worden. Schönes Spa, gute Küche, traumhafter Blick aufs Meer (ab 170 Euro pro Nacht im Doppelzimmer inklusive Frühstück, www.borgobianco.it ).
Urig wohnt man im Bed and Breakfast Casa Dorsi in der Altstadt von Polignano. Die Zimmer sind zweckmäßig eingerichtet, teils mit kleinen Dachterrassen und Blick aufs Meer (ab 80 Euro pro Nacht inklusive Frühstück,www.casadorsi.it ).
Essen und trinken
In Polignano a Mare kann man in einer zum Meer hin offenen Kaverne im Fels speisen. Das Grotten-Restaurant gehört zum gleichnamigen Hotel ( www.grottapalazzese.it ) und bietet ein einmaliges Ambiente.
In der Taverna della gelosia in Ostuni, der Taverne der Eifersucht, kann man tatsächlich eifersüchtig werden - auf die romantische Terrasse, auf der man zwischen Bougainvilleen und alten Feigenbäumen sitzt ( www.tavernadellagelosia.it).
Hausgemachte Pasta und echte apulische Spezialitäten werden in dem in einem Trullo gelegenen Restaurant L’Aratro in Alberobello serviert ( www.ristorantearatro.it ).
Besichtigungen
Marilu Iaccarini aus Bari kennt sich in ganz Apulien aus und zeigt Touristen gerne die Gegend. Dank eines Semesters in Tübingen spricht die Fremdenführerin ausgezeichnet Deutsch. Preis je nach Aufwand 80 bis 100 Euro für einen halben Tag, 130 bis 150 Euro für einen ganzen Tag. Telefon 00 39 / 32 87 41 85 19, E-Mail marilu.iaccarini@libero.it.
Der Trullo von Pasquale Seistri und Grazia Tauro liegt in der Via Duca degli Abruzzi 16 im Stadtviertel Aia Piccolo in Alberobello. Genaue Öffnungszeiten gibt es nicht, der Besitzer steht jedoch fast immer für eine kostenlose Besichtigung bereit.
Allgemeine Informationen
Italienische Zentrale für Tourismus: www.enit.it . Apulien-Tourismus: www.viaggiareinpuglia.it . Tourismus-Information Alberobello: www.viaggiareinpuglia.it .
Buchtipps
Dumont-Reisetaschenbuch „Apulien“ von Jacqueline Christoph, 16,99 Euro. Merian live „Apulien“ von Nicoletta de Rossi, 11,99 Euro.
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