Unfall oder Mord?

Der Alltag von Rechtsmedizinern ist deutlich unglamouröser als in den TV-Serien - allerdings auch vielfältiger. Sie haben in der Regel noch ganz andere Aufgaben.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Rechtsmediziner werden hinzugezogen, wenn jemand eines unnatürlichen Todes stirbt
dpa Rechtsmediziner werden hinzugezogen, wenn jemand eines unnatürlichen Todes stirbt

Der Alltag von Rechtsmedizinern ist deutlich unglamouröser als in den TV-Serien - allerdings auch vielfältiger. Sie haben in der Regel noch ganz andere Aufgaben.

Wenn Jan Josef Liefers als Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne im „Tatort“ zu Opernmusik um den Obduktionstisch tänzelt, verleiht er dem Berufsstand etwa Glamouröses. Die TV-Sendung hat dem Beruf eine Menge Popularität verschafft – und gleichzeitig ein schiefes Bild davon gezeichnet. Denn während Boerne ständig mittendrin in den Ermittlungen steckt und den Kommissar auf die Spur des Mörders führt, arbeitet der echte Rechtsmediziner eher im Hintergrund.

Trotzdem ist es ein spannender Job. Rechts-, Gerichts- oder forensische Medizin – all das sind Namen für dieselbe Fachrichtung. „Sie nimmt eine Vermittlerrolle zwischen der Medizin und der juristischen Seite ein“, erklärt Hansjürgen Bratzke vom Berufsverband Deutscher Rechtsmediziner in Frankfurt.

Rechtsmediziner werden hinzugezogen, wenn jemand eines unnatürlichen Todes stirbt – im Unterschied zu Pathologen, die sich mit der Krankengeschichte von natürlich Verstorbenen befassen. Bevor eine Leiche in die Gerichtsmedizin kommt, muss der Notarzt eine ungeklärte Todesursache oder einen unnatürlichen Tod diagnostizieren. Die Polizei beschlagnahmt die Leiche dann, der Staatsanwalt muss eine Untersuchung anordnen und ein Richter zustimmen.

Der Gerichtsmediziner versucht daraufhin, die Todesursache zu klären und den Sterbevorgang zu rekonstruieren. Daneben begutachtet er lebende Opfer und Beschuldigte von Gewaltverbrechen – etwa beim Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch von Kindern. Der Arzt trifft Aussagen über den geistigen Zustand von Straftätern und achtet dabei beispielsweise auf Drogen- oder Alkoholprobleme. In Haar-, Blut-, Sperma- und Speichelproben sucht er Spuren eines Täters.

Viele Stunden ihrer Arbeitszeit stehen Rechtsmediziner am Obduktionstisch. Dann geht es darum, nach verdächtigen Spuren zu suchen, ohne sich von Verdächtigungen leiten zu lassen. „Wir müssen ruhig an die Aufträge herangehen. Ein emotionales Gutachten ist kein gutes Gutachten“, erklärt Hansjürgen Bratzke.

Bei Kindesmisshandlungen zum Beispiel sei die Gefahr groß, dass die Expertise von Gefühlen beeinflusst wird. Das kann die Deutung eines Befunds verfälschen, wenn es etwa um die Frage geht, ob ein blauer Fleck ein Indiz für eine Straftat ist oder nicht. Hier ist also eine professionelle Distanz gefragt. Das gilt auch deshalb, weil Gerichtsmediziner ständig mit dem Tod konfrontiert sind. Und dabei manchmal in menschliche Abgründe blicken. Neben Obduktionen nehmen Forschung und Lehre viel Raum bei der Arbeit ein. Rechtsmediziner machen Medizin- und Jurastudenten sowie Polizisten, Anwälte und Richter mit den Grundlagen des Fachs vertraut.

Die Kunst des Rechtsmediziners zeigt sich auch vor Gericht. „Sie müssen medizinische Sachverhalte analysieren und so vortragen, dass sie auch verstanden werden“, erläutert Bratzke. Wenn Boerne im „Tatort“ Hauptkommissar Thiel alias Axel Prahl mit eigenen Theorien in den Wahnsinn treibt, ist das unterhaltsam. Die Realität sieht aber anders aus: „Wir duzen uns üblicherweise mit Richtern, Staatsanwälten oder Polizisten nicht“, sagt Stefan Pollak, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Freiburg.

Anders als ihre anglo-amerikanischen Kollegen ermitteln deutsche Rechtsmediziner nicht oder nehmen an Verhören teil. „Wer so arbeiten will, muss zur Kripo gehen“, empfiehlt Bratzke. Der Weg zum Rechtsmediziner führt über ein Medizinstudium und die anschließende Ausbildung zum Facharzt. Wenn Studenten das erste Mal einen Einblick in das Fach bekommen, gruseln sich manche. Das gehört aber für jeden angehenden Mediziner dazu. „Sie lernen die Zeichen des Todes erkennen und interpretieren“, sagt Pollak.

Wer diesen Karriereweg wählt, muss viel Enthusiasmus mitbringen: Eine hohe Arbeitsbelastung und 14-Stunden-Tage sind dem Berufsverband zufolge an der Tagesordnung. „Wir sind chronisch überlastet“, klagt Bratzke. Nach 36 Dienstjahren hat er die Wahl seiner Fachrichtung dennoch „keinen Tag bereut“ – wegen ihrer Vielfältigkeit. Arbeit für die Fachleute dürfte es auch weiterhin genug geben. Über die Zahl der unaufgeklärten Morde lässt sich zwar nur spekulieren. Experten gehen aber davon aus, dass auf jedes entdeckte Tötungsdelikt ein unerkanntes kommt, erläutert Bratzke.

Unter Gerichtsmedizinern kursiert daher der Spruch: „Wenn auf jedem Grab eines unentdeckt Ermordeten eine Kerze stünde, wären Deutschlands Friedhöfe hell erleuchtet.“

Katlen Trautmann

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
Teilen
lädt ... nicht eingeloggt
 
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.