"Soziale Steinzeit": Arbeitgeber-Vorschlag zu Krankentagen sorgt für Empörung

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Wer krank ist, soll draufzahlen: Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln fordert drastische Einschnitte bei der Lohnfortzahlung. Die ersten Krankheitstage sollen unbezahlt bleiben, die Lohnfortzahlung auf insgesamt sechs Wochen pro Jahr begrenzt werden (AZ berichtete). Der Vorschlag sorgt für heftige Reaktionen.
Die Summe, um die es geht, ist groß: 82 Milliarden Euro mussten Arbeitgeber 2024 für kranke Mitarbeiter aufbringen, teilt das arbeitgebernahe IW mit. Seit 2010 hätten sich die Kosten mehr als verdoppelt. "Will die Politik die Unternehmen entlasten, muss sie an die Lohnnebenkosten ran", fordert IW-Ökonom Jochen Pimpertz.
Seine Lösung klingt simpel: Karenztage einführen. "Die Gehaltszahlung würde zu Beginn einer Erkrankung für einige Tage ausgesetzt", so Pimpertz. Alternativ könne das Gehalt für einen bestimmten Zeitraum auf niedrigerem Niveau weitergezahlt werden. Besonders brisant: Die Entgeltfortzahlung soll auf sechs Wochen pro Jahr begrenzt werden.
"Angriff auf die Gesundheit der Beschäftigten"
Bernhard Stiedl, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bayern, findet deutliche Worte: "Die Forderung nach Karenztagen und gekürzter Lohnfortzahlung ist nichts anderes als ein Angriff auf die Gesundheit der Beschäftigten", sagt er der AZ. "Wer krank ist, darf nicht auch noch finanziell bestraft werden – das wäre ein Rückfall in die soziale Steinzeit."
"Krankheit entsteht nicht aus Jux und Tollerei"
Der Gewerkschafter sieht die Verantwortung woanders: "Krankheit entsteht nicht aus Jux und Tollerei, sondern oft durch Überlastung, Personalmangel oder fehlende Prävention – also durch Versäumnisse der Arbeitgeber." Seine Lösung: Der Arbeitnehmer müsse für bessere Arbeitsbedingungen, weniger Druck, mehr Personal und Prävention gegen psychische Belastungen sorgen.
Patientenbeauftragter warnt vor finanzieller Belastung
Auch der Freie-Wähler-Landtagsabgeordnete Thomas Zöller, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, sieht die Debatte kritisch. "Als Patientenbeauftragter bin ich nicht dafür, dass wir ernsthaft erkrankte Menschen finanziell fallen lassen", teilt er auf AZ-Anfrage mit.

Allerdings zeigt sich Zöller offen für alternative Ansätze: "Die ebenfalls diskutierte Idee einer Gesundheitsprämie finde ich daher reizvoll." Mitarbeitende, die nie krank sind oder als Vertretung einspringen, würden für ihren zusätzlichen Einsatz belohnt. "In der Debatte bevorzuge ich also – statt einer Bestrafung – diesen positiven Ansatz."
VdK: "Katastrophal für chronisch Kranke"
Verena Bentele, Präsidentin des VdK Deutschland und Vorsitzende des Sozialverband VdK Bayern, warnt vor den Folgen des IW-Vorschlags: "Es käme unmittelbar zu Lohneinbußen bei Erkrankten", sagt sie der AZ. "Es würde wieder einmal diejenigen am härtesten treffen, die ohnehin geringere Arbeitseinkommen haben und dann womöglich in die Armut rutschen."

Alarmierend sind für Bentele vor allem die Auswirkungen auf Menschen mit dauerhaften Erkrankungen: "Besonders katastrophal wäre es für chronisch Kranke mit Mehrfacherkrankungen, wenn es zur vorgeschlagenen Begrenzung auf einen 6-Wochen-Zeitraum für eine Diagnose pro Jahr kommen sollte."
Prävention statt Bestrafung?
"Das Zauberwort heißt Prävention", so VdK-Präsidentin Bentele. Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, Stressmanagement und flexiblere Arbeitszeiten seien der richtige Weg.
DGB-Chef Stiedl wird noch deutlicher: "Gesunde, motivierte Beschäftigte sind das Fundament unseres Wohlstands. Wer dagegen auf Bestrafung von Kranken setzt, handelt nicht nur unsozial, sondern auch wirtschaftlich kurzsichtig."
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