Pauken bringt nichts
Rund fünf Prozent der Bevölkerung sind von Legasthenie betroffen. Mit der richtigen Therapie kann vieles kompensiert werden. Je früher die Diagnose gestellt wird, desto gezielter ist Hilfe möglich
Wenn Lukas sein Schulheft zurückbekommt, sieht er rot. Rot unterstrichen sind seine Wörter, rot die Anmerkungen des Lehrers. Kein Satz steht fehlerfrei, die Buchstaben drängeln sich in Worte, in die sie nicht gehören, und fehlen, wo sie zu sein hätten. Jede Deutscharbeit wird zur Frustration für Lukas und nicht selten auch für seine Eltern. Als Legastheniker wird Lukas wohl nie ganz fehlerfrei schreiben – Experten zufolge mit der richtigen Therapie aber viel von seiner Schwäche kompensieren können.
Etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind von Legasthenie betroffen. Detlef Träbert beschreibt das Phänomen als eine ererbte oder durch Geburtseinflüsse erworbene Schwäche, die Schriftsprache zu erwerben. Die Fähigkeit, Buchstaben und Wortbilder wahrzunehmen und zu verarbeiten, sei bei den Betroffenen beeinträchtigt, sagt der Lerntherapeut. „Man kann sich das in etwa wie eine Farbenblindheit für Worte vorstellen“ ergänzt Annette Höinghaus vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie, und Mutter zweier betroffener Kinder.
Legasthenie lässt sich entgegen der weitläufigen Annahme nicht durch bestimmte, typische Fehler erkennen. „Die Kinder machen die gleichen Fehler wie andere auch, nur sehr, sehr viele mehr. Und sie schreiben ein und das gleiche Wort immer wieder auf unterschiedliche Weise falsch“, erklärt Annette Höinghaus.
Aus dem Willen heraus, ihren Kindern zu helfen, machen Eltern dann oft einen großen Fehler: „Sie fangen an, mit ihnen zu pauken. Das stresst die ganze Familie und belastet die Eltern-Kind-Beziehung enorm“, hat Träbert in seiner Arbeit beobachtet. Auch Caspar Bonhoff, Leiter eines Instituts für Legastheniker-Therapie (ILT), rät Eltern, gnadenloses Üben einfach sein zu lassen: „Das Training an einem bestimmten Wort bringt bei legasthenen Kindern überhaupt nichts, auch das Abschreiben von Diktaten ist eine unnütze Quälerei.“
Eltern sollten sich bewusst machen, dass die Kinder die vielen Fehler weder mit böser Absicht, noch durch Faulheit machen. „Die Kinder wollen ihren Eltern doch meist gefallen und leiden selbst sehr unter der Situation“, sagt Bonhoff.
Statt sich ein- bis zweimal in der Woche eine Stunde lang mit Rechtschreibung zu quälen, sollte lieber jeden Tag fünf bis zehn Minuten mit Spaß geübt werden, rät Träbert. Vor allem aber sollten Eltern viel mit ihren Kindern lesen. „Besorgen Sie Bücher zu den Hobbys der Kinder und lesen Sie gemeinsam“, sagt Höinghaus.
Wichtig für den Erwerb der Schriftsprache ist den Experten zufolge die Fähigkeit zu strategischem Denken und Vorgehen. Detlef Träberts Tipp hierfür: Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen. Die Kinder lernen so die Strategie: Würfeln, Gucken, Ziehen. „Viele Kinder ziehen einfach drauflos. Und genauso verhalten sie sich auch beim Schreiben.“
Letztlich aber ist für Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung eine ausführliche Diagnostik und eine Therapie unerlässlich, sind sich die Experten einig. „Eines der größten Probleme ist, dass Legasthenie häufig zu spät erkannt wird“, sagt Bonhoff. Oftmals hörten Eltern von Lehrern, das Problem werde sich auswachsen. Dem ist aber nicht so. Je früher die Diagnose gestellt wird, desto gezielter ist Hilfe möglich.
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