"Ich kann nicht mehr"
Gemobbt, depressiv, arbeitsunfähig: Eine Münchner Verkäuferin schildert in der AZ, wie sie die Kraft verliert, ihren Beruf auszuüben. Wie ihr geht es vielen – immer mehr gehen in Frührente
MÜNCHEN - Mobbing, Depressionen, Burn-Out: Wenn der Job die Seele krank macht, bedeutet das für immer mehr Menschen das berufliche K.o. Was mit einer Krankschreibung beginnt, endet dann mit Arbeitsunfähigkeit. „Ich erlebe kaum jemanden, der ein Rentenbegehren hat, ohne dass eine psychische Erkrankung dabei ist“, sagt Wolfgang Hahnhow, Versichertenberater der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd.
Schon heute sind vier von zehn Frühverrentungen in München psychisch bedingt. Das belegen die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (AZ berichtete). Die Zahl derer, die wegen seelischer Erkrankungen nicht mehr arbeiten können, stieg damit in den vergangenen fünf Jahren um ein Viertel. Eine von ihnen ist Sabine Vollmer (Name geändert). Die 59-Jährige geriet in die Mobbingfalle und leidet seither unter Depressionen. Sie hat deswegen Erwerbsminderungsrente beantragt. Über ihre Belastung im Beruf sagt sie: „Ich kann einfach nicht mehr.“
Der seelische Albtraum beginnt im Sommer 2008, als Sabine Vollmer eine neue Chefin bekommt. Seit sie eine junge alleinerziehende Mutter war, hatte Vollmer als Verkäuferin gearbeitet, 20 Jahre davon im gleichen Unternehmen – doch plötzlich schien das alles nichts mehr wert zu sein. An den Tag, als Vollmer das erste Mal mit ihrer neuen Chefin aneinander gerät, erinnert sie sich genau. Ein nichtiger Anlass. „Ich war am Kassieren, da kam sie zu mir und machte mich runter. Vor allen Kollegen und den Kunden“, sagt Sabine Vollmer. Die Frau mit dem kecken Kurzhaarschnitt atmet tief durch, spricht erst nach einer Pause weiter. Das Erinnern kostet Kraft. „Von da an ging’s nur noch bergab.“
Plötzlich wird jeder Kassiervorgang, jedes Verkaufsgespräch misstrauisch von der neuen Vorgesetzten überwacht. Wenn ein Kunde einmal geht, ohne einzukaufen, kommt es zu lauten Auseinandersetzungen. „Sie gab mir das Gefühl, ich sei zu nichts fähig. Früher war bei mir doch immer alles picobello.“ Erst viel später wird Vollmer in einem Gespräch mit einem Arzt klar: Was sich hier abspielt, ist Mobbing. Da ist ihre Seele schon längst krank.
Heute sagt sie über ihre Ex-Chefin: „Sie hat mir alles genommen: meine Persönlichkeit, mein Selbstvertrauen, meine Lebensfreude.“ Am Anfang schleppt sich Vollmer noch jeden Tag in die Arbeit. Dass es ihr nicht gut geht, merkt jeder. „Ich kam schweißgebadet hin, habe gezittert“, erinnert sich Vollmer. „Nachts konnte ich nicht schlafen.“ Sie reißt sich Haarbüschel aus, kratzt sich die Haut am Rücken auf. Ein Arzt verschreibt ihr Beruhigungstabletten. Nach einem Monat bricht sie zusammen. Mit einer Überdosis Tabletten im Körper kommt sie in eine Nervenklinik. „Ich wollte mir nichts antun, ich wollte nur vergessen.“
Es folgen ein vierwöchiger Klinikaufenthalt, Artzney, Gruppen- und Einzeltherapien. Vollmer sucht vergeblich nach Halt. Sie igelt sich zuhause ein, ist antriebslos, leidet unter Ängsten. Plötzlich lässt sich die Frau, die immer auf ihr Äußeres geachtet hat, gehen. Dann, nach einem halben Jahr spürt sie wieder Kraft, kommt in die Arbeit zurück. Und erleidet doch bald wieder einen Rückschlag. Eine Rücken-OP wirft sie nicht nur körperlich, sondern auch seelisch aus der Bahn. Die Artzney setzen ihrem Körper zu, sie macht eine Reha und muss wieder öfter in psychologische Behandlung.
Zu all dem kommt die Sorge um die finanzielle Zukunft. Eine Zeit lang bekommt Vollmer Krankengeld. Als das ausgeschöpft ist, muss sie sich bei der Arbeitsagentur melden. Zwischenzeitlich hat sie Erwerbsminderungsrente beantragt, doch die Prüfungen ziehen sich hin. Ein Prüfarzt der Rentenversicherung bescheinigt Vollmer, dass sie teilweise arbeitsunfähig ist. Das bedeutet: Sie könnte täglich zwischen drei und sechs Stunden arbeiten und bekäme die Hälfte der Rente. Da ihr Arbeitgeber aber keine solche Stelle anbieten kann, gilt für Vollmer die Formel: Der Arbeitsmarkt ist verschlossen. Damit ist wiederum die Voraussetzung erfüllt, dass sie doch die volle Erwerbsminderungsrente bekäme.
So haben Rentenexperten es Vollmer erklärt und gesagt, dass ihr Antrag aller Wahrscheinlichkeit nach positiv beschieden würde – doch sie glaubt erst daran, wenn sie es schwarz auf weiß hat. Die Sorge ist zu groß: „Was soll ich bloß machen, wenn der Antrag abgelehnt wird?“, sagt sie mit leiser Stimme und knetet nervös ihre Hände. „Ich kann einfach nicht mehr bis 65 arbeiten.“
Als sie noch gearbeitet hat, kam Sabine Vollmer mit ihrem Geld immer über die Runden. Angespart hat sie nichts. Dass sie sich deswegen in Zukunft einschränken muss, damit hat sich Sabine Vollmer abgefunden. So wie es aussieht, bleibt ihr am Ende so wenig, dass sie auf die Grundsicherung angewiesen ist. Die gibt es für Frührentner ab etwa 690 Euro Monatseinkommen. Dann schießt der Staat Geld für den Lebensunterhalt zu, damit sie zumindest auf Hartz-IV-Niveau leben kann.
„Finanziell schaff ich’s irgendwie“, sagt Sabine Vollmer, es klingt, als wollte sie sich selbst Mut zusprechen. Sie will aus München wegziehen und die Wohnung aufgeben, in der sie seit fast 40 Jahren wohnt. Sie ist enttäuscht und traurig: „Da arbeitet man jahrzehntelang und am Ende muss man Angst haben, plötzlich arm zu werden.“
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