Der Stasi-Supermarkt

Methoden wie einst in der DDR: Hunderte Seiten mit intimen Details über die Beschäftigten. Per Mini-Kameras soll Lidl Mitarbeiter ausgespäht haben. Jetzt wird ermittelt.
von  Abendzeitung
Kunden wie Angestellte waren ahnungslos: Jeden Morgen um sechs Uhr kam die Lidl-Stasi und soll Kameras installiert haben – angeblich um Ladendiebe aufzuspüren.
Kunden wie Angestellte waren ahnungslos: Jeden Morgen um sechs Uhr kam die Lidl-Stasi und soll Kameras installiert haben – angeblich um Ladendiebe aufzuspüren. © dpa

Methoden wie einst in der DDR: Hunderte Seiten mit intimen Details über die Beschäftigten. Per Mini-Kameras soll Lidl Mitarbeiter ausgespäht haben. Jetzt wird ermittelt.

Fair geht vor“, heißt es auf den Internet-Seiten von Lidl. Der Discounter empfiehlt sich zukünftigen Mitarbeitern als Traum-Arbeitgeber – mit einer überdurchschnittlichen Bezahlung und glänzenden Karriere-Aussichten. Allerdings hat das Sozial-Image von Lidl jetzt eine weitere tiefe Schramme bekommen: Lidl musste zugeben, Beschäftigte systematisch mit Miniaturkameras überwacht zu haben.

Detaillierte Protokolle wie bei der Staatssicherheit

Streichholzschachtelgroße Kameras, unter den Deckenplatten angebracht, Überwachungsmonitore im Pausenraum: Damit spionierte Lidl die eigenen Angestellten aus, berichtet der „Stern“. Offiziell hätten die Kameras dem Schutz vor Ladendieben gedient. Der eigentliche Zweck sei ein anderer gewesen: Detailliert sei auf mehreren Hundert Seiten mit Tag und Uhrzeit protokolliert worden, wann und wie häufig Mitarbeiter auf die Toilette gingen, wer mit wem möglicherweise ein Liebesverhältnis habe, wer nach Ansicht der Überwacher unfähig sei. Indiskrete Dossiers, die an die Stasi-Protokolle erinnern und die in ihrer dreisten Banalität noch mehr ihre Autoren als die Opfer ihrer Neugier entlarven.

Mittwoch, 14.05 Uhr: Frau M. möchte in ihrer Pause ein Telefonat mit ihrem Handy führen, es erfolgt die automatische Ansage, dass das Guthaben auf ihrem Prepaid-Handy nur noch 85 Cent beträgt. Schließlich erreicht sie telefonisch eine Freundin, mit welcher sie heute Abend gerne gemeinsam kochen würde, dieses setzt aber voraus, so Frau M., dass ihr Gehalt bereits gutgeschrieben wurde, da sie ansonsten kein Geld mehr hätte, um einzukaufen.

"Systematisch und gezielt"

Ein Einzelfall, das Werk eines übereifrigen Filialleiters? Im Gegenteil, so der „Stern“. Systematisch und gezielt habe die Lidl-Zentrale im schwäbischen Neckarsulm jeweis am frühen Montagmorgen Kontrolleure einer externen Detektei in einzelne Filialen geschickt, die die Kameras installierten und die Aufzeichnungen auswerteten. Nach einer Woche hätten die Späher von MiG Security ihre Beobachtungen an die Lidl-Bosse gemeldet. Gezielt seien sie auf einzelne Beschäftigte angesetzt worden. Beispielsweise Frau L., die offensichtlich wegen privater finanzieller Probleme auf der Abschussliste der Lidl-Chefs stand.

Freitag, 15 Uhr: Auch heute holt sich Frau L. in ihrer Pause ein belegtes Brötchen vom benachbarten Bäcker. Von einer Privatinsolvenz und der damit verbundenen „Enthaltsamkeit“ keine Spur. Frau L. raucht in Deutschland versteuerte Markenzigaretten, schickt ihr Kind für vier Wochen in den Urlaub zu einer Schwägerin nach Italien und hat selbst zu ihrem Urlaub für vier Wochen ein befreundetes Ehepaar aus Russland eingeladen, welches auch bei ihr beziehungsweise der Familie L. wohnt. Meines Erachtens ist die Privatinsolvenz von Frau L. nur vorgeschoben, beziehungsweise es liegt der Verdacht nahe, dass sie Geschäftsabschlüsse für ihren Mann auf ihren Namen genommen hat. Wenn man L. beobachtet, kann man nicht nur feststellen, dass sie introvertiert ist, sondern auch naiv wirkt.

„Der Skandal schlechthin“

Die meisten dieser Berichte stammten aus Lidl-Filialen in Niedersachsen. Björn Krings von der Gewerkschaft Verdi in München geht allerdings davon aus, dass die Bespitzelung keine Ausnahme ist. „Ich denke schon, dass da System dahintersteckt“, sagte er zur AZ. Achim Neumann, Verdi-Handelsexperte in der Gewerkschaftszentrale in Berlin, sprach von einem Verstoß gegen das Grundgesetz. „Was hier mit der Würde von Menschen passiert, ist der Skandal schlechthin.“ Von einer solchen systematischen Mitarbeiterüberwachung habe er noch nie gehört. „Diese Dimension ist mir völlig neu.“

Die Menschenwürde scheint im Lidl-Alltag freilich ohnehin keine übertriebene Rolle zu spielen. Zum Beispiel in einer Lidl-Filiale in Tschechien: Dort sei den Mitarbeitern verboten worden, während der Arbeitszeit auf die Toilette zu gehen, zitiert der „Stern“ eine tschechische Bürgerrechtlerin. Ausnahme, so die Anti-Lidl-Aktivistin: Weibliche Mitarbeiter, die gerade ihre Tage haben, dürfen auch zwischendurch auf die Toilette. Für dieses Privileg allerdings sollen sie – weithin sichtbar – ein Stirnband tragen.

Lidl widersprach der Darstellung, so der „Stern“, wollte aber nicht gegen die Bürgerrechtlerin vorgehen.

Konzern-Chefs waschen die Hände in Unschuld. Beim aktuellen Schnüffel-Skandal bestätigt Lidl zwar die Existenz der Protokolle, spielt die Bedeutung aber herunter. Die Berichte hätten „nicht der Mitarbeiterüberwachung, sondern der Feststellung eventuellen Fehlverhaltens“ gedient. Und überhaupt sei die Überwachung nicht mit der Unternehmens-Philosophie in Einklang zu bringen: „Hinweise und Beobachtungen entsprechen weder im Umgangston noch in der Diktion unserem Verständnis vom Umgang miteinander.“

Aber die Protokolle sprechen eine andere Sprache, wie dieses aus einer Filiale in Hannover:

Donnerstag, 14.50 Uhr: Frau T. telefoniert mit ihrem Freund, es geht um das gemeinsame Abendessen. Obwohl sie weiß, dass der Markt gut besucht ist und noch diverse Arbeiten zu erledigen sind, verspricht sie ihm, pünktlich Feierabend zu machen.

Datenschützer alarmiert

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, nimmt die Lidl-Schnüffelei ziemlich ernst. Sie stelle einen schweren Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz dar, sagte er. Wenn ein Arbeitgeber seine Beschäftigten überwache, müsse das offen geschehen: „Die Kameras müssen dann gut erkennbar sein. Außerdem müssen diejenigen informiert werden, die überwacht werden, etwa durch Hinweisschilder.“ Schaar forderte, die zuständigen Behörden sollten tätig werden. Das baden-württembergische Innenministerium kündigte bereits ein datenschutzrechtliches Prüfverfahren an.

Betriebsräte? Fehlanzeige

Mit amtlichen Ermittlungen bekäme die Gewerkschaft Verdi Unterstützung für ihre Arbeit. Sie berichtet seit Jahren über Repressalien bei Lidl, hat die schlimmsten Verstöße in einem „Schwarzbuch“ dokumentiert.

Vor allem über die Arbeitszeiten würden die Mitarbeiter unter Druck gesetzt, berichtet der Münchner Gewerkschafts-Sekretär Orhan Akman. Ein beliebter Trick: Die Arbeitsstunden, so Akman, werden nicht oder nur mangelhaft erfasst – Folge: Die Beschäftigten würden ohne Freizeitausgleich oder Überstundenzuschlag weit mehr als das tarifliche Maß von 37,5 Stunden pro Woche arbeiten. Auch von den tariflich vorgeschriebenen 16 freien Samstagen im Jahr könnten viele Lidl-Beschäftigte nur träumen.

Eine Interessensvertretung der Arbeitnehmer würde mit solchen Unsitten und mit der Bespitzelung von Mitarbeitern aufräumen. Aber daran ist in den meisten Fällen nicht zu denken. Um die 3000 Lidl-Filialen gibt es in Deutschland, nur „in einer Handvoll“, heißt es bei Verdi, sei bislang ein Betriebsrat gegründet worden. In einem Klima der Angst traue sich niemand, für seine Rechte offen einzutreten.

Möglich sei das nur, weil die allermeisten Lidl- Beschäftigten nur Teilzeit-Verträge haben, aber auf ein Vollzeit-Gehalt angewiesen sind. Zu Beginn ihrer Tätigkeit würden ihnen Überstunden versprochen, mit denen das nötige Geld für die Miete hereinkommen soll. Besinne sich die Mitarbeiterin auf ihre Rechte, würden die Überstunden gestrichen – wirkungsvoller lasse sich kaum ein Angestellter rausekeln.

Niedriger Altersschnitt gesichert

Auf diese Art entledige sich Lidl auch älterer Arbeitnehmer, so dass der Altersschnitt in der Belegschaft niedrig bleibe, sagt Verdi-Experte Björn Krings. „Ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass bei Lidl die Beschäftigten in der Mehrzahl viel jünger sind als beispielsweise bei Penny?“ Jung, leistungsfähig, anspruchslos und lückenlos transparent – möglicherweise der ideale Beschäftigte für einen kompromisslosen Arbeitgeber.

SUSANNE STEPHAN

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