China ist anders
Nie waren Bücher aus China schonungsloser - der Münchner Autor und Sinologe Tilman Spengler über die Wahl Chinas als Gastland der Frankfurter Buchmesse
In einem der schönsten Kapitel ihres neuen Dokumentarfilms führt uns die chinesische Autorin und Filmemacherin Guo Xiaolu einen alten Bauern vor, der vor den Toren von Peking durch sein Maisfeld schreitet. Der Mais sieht schäbig aus, und der Bauer flucht. Flucht mit allen Obszönitäten, die ihm zu Gebote stehen, über die neue Regierung, über die Geldgier und die Korruption. „Unter Mao“, ruft er immer wieder, „unter Mao hätte es diese Hurensöhne nicht gegeben.“ Unter Mao wäre der Alte schon für einen Halbsatz seiner Rede für Jahrzehnte fortgesperrt worden.
Es wird uns in den letzten Wochen von manchen Kommentaren eingeredet, wir müssten China in unserer Bewertung zweiteilen: Da sind einmal die Aufrechten, die tapfer gegen das Unrecht protestieren und deswegen nicht auf die Buchmesse nach Frankfurt dürfen. Und dann sind da die Schleimer, die Stützen des Systems, miserable Autoren, die zur Belohnung auch noch auf unsere Einladung nach Deutschland kommen dürfen.
Schlichten Gemütern reicht das zur Kennzeichnung von Freund und Feind. Reicht das, um die ganze Messe zum Teufel zu wünschen. Dabei ist diese Messe gerade wegen ihrer Widrigkeiten schon im Vorfeld eine vortreffliche Gelegenheit, das Land kennenzulernen. Nein, naturgemäß reden wir nicht der Zensur das Wort, prangern wir die Verletzung elementarer Rechte an. Soviel zur offenbar notwendig gewordenen Mantra des Selbstverständlichen. Aber gleichzeitig muss gesagt werden: Nie haben Bücher aus China schonungsloser mit den Missständen im eigenen Land abgerechnet. Nie wurde auch noch der letzte kleine Schleier von den Mythen angeblicher sozialistischer Errungenschaften fortgerissen. Und das vor den Augen der Welt, so sie nach Frankfurt blickt. Es sind Berichte von chinesischen Autoren, die im Lande leben und anderen, die aus dem Lande vertrieben wurden. Berichte von denen, die die Rolle des Exilierten angenommen haben und solchen, die diese Bezeichnung stolz ablehnen. Es sind Positionen, so schillernd wie ein Regenbogen. Wie schön wäre es, wenn unsere neo-wilhelminischen Kommentatoren auch auf diese Vielfalt hinwiesen.