Tweets sind komplexer als 140 Zeichen
Twitter trägt politische Debatten aus den Parlamenten und bringt sie zu den Bürgern, sagt der Politologe Christoph Bieber. Im dpa-Gespräch erklärt der Professor, warum Tweets mehr aussagen als eine 140-Zeichen-Mitteilung - und Politiker sich auch mal "verzwitschern".
Berlin - Immer mehr Politiker twittern. Schafft diese neue, direkte Kommunikationsform mehr Nähe zum Wahlvolk? Verändert sie gar die politische Meinungsbildung?
Bieber: "Twitter ist vielleicht der unmittelbarste und schnellste Kanal, und der, über den man im Moment spricht. Aber das ist nicht die Neuerung. Politiker können auch über Websites direkt mit den Bürgern kommunizieren. Entscheidend ist, dass dies nun auch in ganz anderen Situationen möglich ist. Über Twitter nimmt man direkte Bezüge auf das aktuelle Geschehen, man kommentiert - manchmal als eine Art Zwischenruf-Ebene, die aber nicht nur im jeweiligen Parlament, sondern auch für die Menschen draußen sichtbar wird. Das eröffnet neue Zugänge in die Politik. Mit Twitter kommen neue Arenen hinzu - und Arenen, in denen bisher politisch kommuniziert wird, verändern sich. Was das nun für die Zukunft heißt, lässt sich noch nicht absehen. Twitter ist noch ein sehr junges Phänomen. Dass es den gesamten Meinungsbildungsprozess verändert, halte ich aber für zu weit gegriffen.
Verleitet Twitter Politiker dazu, schnell mal etwas mitzuteilen, was sie hinterher vielleicht bereuen?
Bieber: "Das kann passieren. Wenn man eben nicht weiß, dass die Äußerungen tendenziell weltweit sichtbar sind, auch wenn man vielleicht nicht besonders viele Follower (Leser) hat. Politiker, die sich ohne lange Nutzungserfahrung auf Twitter bewegen, machen Dinge falsch. Aber das wohnt jedem neuen Medium inne. Den Piraten geht es zum Beispiel so, wenn sie sich an eher alte Formate gewöhnen müssen, etwa ein Interview mit professionellen Journalisten. Wenn man sich auf etwas Neues einlässt, passieren Fehler nun mal. Diese Erfahrungen sind mitunter schmerzlich, aber wenn man sie gemacht hat, wird man die Nutzung überdenken und verbessern."
Sind politische Tweets nicht bloß Informationshappen, die eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einem Thema verhindern?
Bieber: "Das stimmt so nicht. Man kann Twitter sehr absichtsvoll und konstruiert nutzen, etwa indem man der reinen Textebene einen Link zufügt und auf andere Inhalte verweist. Oder sich durch einen Hashtag (#) in einen Diskussionsfluss einklinkt. Das Spektrum ist sehr breit, und es ist überhaupt nicht so, dass man auf Twitter ausschließlich kurz, knapp und emotional kommunizieren könnte. Was Twitter sehr gut leisten kann, ist die Lenkung von Kommunikation, der Verweis auf interessante Fundstücke im Netz, die eben weit länger sein können als 140 Zeichen. Das wird von vielen Menschen verkannt, dass es eben nicht nur darum geht, kurze Botschaften wie bei SMS zu verteilen, die sich alleine über den lesbaren Inhalt definieren. Die Twitter-Kommunikation ist sehr viel komplexer. Man muss sich nur von dem Gedanken verabschieden, dass alles, was man über Twitter sagt, tatsächlich in einem Tweet zu lesen ist."
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